Das Ankerpunkte Alternative History Canvas ist eine Methode für alle, die wissenschaftlich fundiert über Alternative History spekulieren wollen.
Damit können geschichtlich Interessierte Alternative History Szenarien entwickeln und historische Ereignisse neu entdecken.
- Ankerpunkt
- Historischer Hintergrund
- Was-wäre-wenn-Frage
- Unrealistische Entwicklung
- Alternatives Szenario
- Reale Entwicklung
- Wissenschaftliche Erkenntnis
- Weitere Forschungen
- Workshops mit dem Ankerpunkte Alternative History Canvas
- Lizenz des Ankerpunkte Alternative History Canvas
- Quellen und Literatur
Das Canvas dient dem Ziel, die Komplexität eines historischen Ereignisses oder einer historischen Entwicklung systematisch zu analysieren und ausgehend von einem Ankerpunkt realistische Alternative History Szenarien zu entwerfen. Dadurch entsteht ein tiefgreifenderes Verständnis von Geschichte, mit vier Schwerpunkten:
- Der Verflechtung zwischen historischen Ereignissen und den Folgen für die Geschichte.
- Der Wiederentdeckung „verlorene“ Teile der Geschichte.
- Dem verbesserten Verständnis für Entscheidungen der Vergangenheit.
- Dem Aufzeigen von Möglichkeiten für die Gegenwart und in der Zukunft.
Das Canvas (englisch Leinwand) ist inspiriert von Design Methoden aus dem Start-up Bereich (zum Beispiel Business Model Canvas) und eignet sich damit als Citizen Science Methode in der Geschichtswissenschaft.
Das Ankerpunkte Alternative History Canvas umfasst acht Felder mit verschiedenen Diskussionsaufgaben (siehe Bild unten), die Forschende und Teilnehmende eines Workshops gemeinsam ausfüllen.
Es empfiehlt sich, für jedes der acht Felder eine Zeitvorgabe zu machen, um die Diskussion auf ein notwendiges Maß zu begrenzen.
Der Vorteil am Ankerpunkte Alternative History Canvas ist, dass es durch die verschiedenen Felder unterschiedliche Aspekte eines Alternative History Szenarios beleuchtet. Gleichzeitig bleiben diese in einer Übersicht. Dies ermöglicht es Teilnehmenden, einen Überblick über ihre Erkenntnisse behalten sowie diese zu korrigieren, zu erweitern und in Übereinstimmung zu bringen.
1. Ankerpunkt
Diskussionsfrage: Was ist ein möglicher Ausgangspunkt für das Alternative History Szenario?
Der erste Schritt zur Nutzung des Alternativ History Canvas ist, den historischen Ausgangspunkt für das Alternative History Szenario zu entdecken – den Ankerpunkt.
Zum besseren Verständnis für die Teilnehmenden kann die Moderation eine historische Entwicklung in einem Zeitstrahl visualisieren. Die Teilnehmenden können anschließend Ereignisse als mögliche Ankerpunkte einfügen.
Die Art der Ankerpunkte kann dabei variieren. Beispielhaft sind nach dem Historiker Alexander Demandt:
- Anfang und Ende von Kriegen
- Verhandlungen über Verträge
- Regierungswechsel
- bedeutende Entscheidungen, Erfindungen und Entdeckungen
- Erscheinen und Verschwinden von bedeutenden Persönlichkeiten
- Notlagen und Krisen
Zum Beispiel markierte eine Gruppe bei der Entwicklung der autofreundlichen Altstadt in Regensburg verschiedene Schritte der damaligen Planungen.
Wichtig ist, dass die Gruppe am Ende der Diskussion einen Ankerpunkt ausgewählt.
2. Historischer Hintergrund
Diskussionsfrage: Was ist der historische Hintergrund, in dem sich der Ankerpunkt ereignete?
Das zweite Feld dient dem Vertiefen der Informationsbasis der Teilnehmenden. Zum Beispiel, welche konkreten historischen Hintergründe die Gründung der OTH Amberg-Weiden Anfang der 1990er begleiteten (siehe Bild unten)
Um die Diskussion in der Gruppe zu starten, helfen folgende Fragen:
- Welche Hintergründe waren relevant für dieses Ereignis?
- Wie lief die historische Entwicklung bis zu diesem Ereignis?
Am Ende sollte ein gemeinsames Verständnis der jeweiligen Gruppe über die Hintergründe bestehen.
3. Was-wäre-wenn-Frage
Diskussionsfrage: Wie sieht eine Was-wäre-wenn-Frage für den Ankerpunkt und vor dessen historischen Hintergrund aus?
Um das Szenario aus dem Ankerpunkt und dem historischen Hintergrund bilden zu können, besteht der nächste Schritt im Ausformulieren einer Fragestellung.
Die Frage fokussiert sich darauf, welche Einzelheit sich beim Ankerpunkt für ein Alternative History Szenario ändert und wie diese Veränderung in einem Satz zusammengefasst werden kann. Helfen können dabei Unterfragen mit wer, wann, was, wo, warum?
Zum Beispiel formulierte beim Workshop zur autofreundlichen Altstadt Regensburg eine Gruppe (siehe Bild unten) die Frage „Was wäre gewesen, wenn das erste Bürgerfest gescheitert wäre?“. Denn dieses galt als ein entscheidendes Ereignis, das das Bild der Altstadt und die Rolle des Verkehrs für die Bevölkerung Regensburgs veränderte.
Es ist durchaus möglich, dass sich zuerst mehrere mögliche Fragestellungen ergeben. Wichtig ist, dass sich die Gruppe am Ende dieses Canvas-Teils für eine entscheidet.
Da die Was-wäre-wenn-Frage maßgeblich für das Alternative History Szenario ist, sollte diese gegebenenfalls noch von einer fachlich kundigen Moderation geprüft werden.
4. Unrealistische Entwicklung
Diskussionsfrage: Welche möglichen Antworten auf die Was-wäre-wenn-Frage sind unrealistisch oder Wunschdenken?
Viele Alternative History Szenarien – vor allem in der bekannten Literatur – sind rein spekulativ oder basieren auf unrealistischem Wunschdenken. Daher müssen sich die Teilnehmenden in diesem Feld selbst reflektieren, um nicht beim Szenario in diese Richtung „abzudriften“.
Als Hilfe kann sich die Gruppe direkt folgende Fragen stellen:
- Was wäre auf keinen Fall passiert?
- Was wäre Wunschdenken?
- Was wäre reine Spekulation?
Die Antworten auf diese Fragen helfen, im nächsten Schritt im wissenschaftlich fundierten Spekulieren zu bleiben.
Dies betrifft auch die zeitliche Beschränkung des Szenarios. Nach Alexander Demandt kann ein realistisches Alternative History Szenario nicht weiter als 30 Jahre ab dem Ankerpunkt gehen. Denn je länger ein Szenario läuft, desto mehr historische Entwicklungen greifen ineinander und erschweren die Erkenntnissuche. Ebenfalls ist die Gegenwart eine Grenze für das Szenario.
Damit unterscheidet sich das Ankerpunkte Alternative History Canvas auch von Innovationsmethoden wie der „Ungeschehenen Geschichte“ im Design Futuring.
5. Alternatives Szenario
Diskussionsfrage: Welche Antworten auf die Was-wäre-wenn-Frage sind möglich und was sind die Konsequenzen daraus?
Eines der zwei größten Felder dient dem Alternative History Szenario. Ausgehend von der Was-wäre-wenn-Frage arbeiten die Teilnehmenden ein Set von Antwortmöglichkeiten aus.
Dabei dienen folgende Möglichkeiten als Richtschnur:
- Umbrüche bleiben aus
- Geblockte Entwicklungen laufen weiter
- Knappe Konflikte haben ein anderes Ergebnis
- Die historische Rolle einer Person wird durch eine andere übernommen
- Geschichte verschiebt sich räumlich
- Historische Großereignisse laufen zeitlich verschoben ab
Zum Beispiel ging eine Gruppe aus Amberg (siehe Bild) anhand der Frage „Was wäre gewesen, wenn 1991 keine Hochschule in der Oberpfalz neben Regensburg gegründet worden wäre?“ die Konsequenzen für die Gesellschaft und Wirtschaft der Region in den folgenden 30 Jahren durch.
Die Teilnehmenden sollen in diesem Feld das Alternative History Szenario möglichst vollständig durchdenken und auf dem Canvas ausformulieren.
Dabei können unterschiedliche Gruppen ausgehend von der gleichen Frage auch auf unterschiedliche Szenarien kommen. Das ist beabsichtigt. Denn ein solches Ergebnis bedeutet eine Lernerfahrung über unterschiedliche historische Entscheidungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen.
6. Reale Entwicklung
Diskussionsfrage: Wie sah im Vergleich zum Alternative History Szenario die reale historische Entwicklung aus?
Um das neue Alternative History Szenario wissenschaftlich zu fundieren, überprüfen die Teilnehmenden es in diesem Feld durch den Vergleich mit der realen Geschichte.
Dieses Rückkoppeln zeigt, ob alle Annahmen des Szenarios und dessen Konsequenzen wirklich fundiert sind. Im Fall der Gründung der OTH Amberg-Weiden zum Beispiel deren (in der Alternative History fehlende) Rolle für den wirtschaftlichen Aufschwung in der Oberpfalz.
Analog zu den Antwortmöglichkeiten des vorherigen Feldes im Canvas kann eine Gruppe daher folgende Abläufe dem Alternative History Szenario gegenüberstellen:
- Umbrüche ereignen sich
- Entwicklungen werden geblockt
- Knappe Konflikte gehen „real“ aus
- Personen nehmen „ihre“ historische Rolle ein
- Die Geschichte bleibt an ihrem angestammten Platz
- Historische Großereignisse laufen zeitlich „richtig“ ab
7. Wissenschaftliche Erkenntnis
Diskussionsfrage: Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse über das einzelne Szenario hinaus bot die Arbeit mit dem Ankerpunkte Alternative History Szenario?
Das entwickelte Alternative History Szenario darf nicht nur anekdotische Ergebnisse anhand des Einzelfalls bieten. Sondern auch wissenschaftliche Erkenntnisse, die ein solides Fundament aufweisen und über das Fallbeispiel hinausgehen.
Im Workshop über die „autofreundliche“ Altstadt Regensburg (siehe Bild unten) ging es zum Beispiel nicht nur um die Erkenntnisse einer anderen Ausführung der Stadtplanung. Sondern auch generell um die Rolle einer Altstadt für eine Großstadt wie Regensburg.
Da Teilnehmende ohne (geschichts-)wissenschaftlichen Hintergrund sich mit diesem Feld schwer tun, bieten sich folgende Fragen als Hilfestellung an:
- Wo hat sich eine Verflechtung zwischen verschiedenen historischen Ereignissen ergeben?
- Welche „verlorene“ Teile der Geschichte wurden wiederentdeckt?
- Wie hat sich das Verständnis für Entscheidungen der Vergangenheit verbessert?
- Welche Möglichkeiten für die Gegenwart und in der Zukunft hat das Szenario aufgezeigt?
8. Weitere Forschungen
Diskussionsfrage: Welche weiteren Forschungen sind nötig, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu vertiefen?
Das Canvas an sich muss nicht das Ende des Alternative History Szenarios bedeuten. Denn wissenschaftlich fundiertes Spekulieren endet nicht mit einem Workshop oder einer Ausarbeitung.
Daher stellen sich im letzten Feld die Fragen: Welche Nachforschungen sind nötig, um die wissenschaftliche Basis des Szenarios zu verbreitern? Und welche Fragen haben sich für die Teilnehmenden im Szenario ergeben, die noch von Forschenden beantwortet werden müssen?
9. Workshops mit dem Ankerpunkte Alternative History Canvas
Das Ankerpunkte Alternative History Szenario ist keine reine Theorie.
Bisher sind es oder Teile davon bereits in folgenden öffentlichen Veranstaltungen angewendet worden:
- 1991: Die OTH Amberg-Weiden wird nicht oder anders gegründet
- 1978: Die „autofreundliche Altstadt“ in Regensburg wird weiter umgesetzt
- Speinsharttag 2024 im Kloster Speinshart
Wenn Sie selbst Interesse an einem Workshop haben, melden Sie sich gerne unter autor@ankerpunkte.de.
Wenn Sie das Canvas angewendet haben und Fragen oder Feedback dazu haben, melden Sie sich ebenfalls gerne unter der oben angegebenen Mailadresse.
10. Lizenz des Ankerpunkte Alternative History Canvas
Das Ankerpunkte Alternative History Szenario ist unter der Lizenz Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License nutzbar.
Dies bedeutet in der Kurzfassung:
- Sie dürfen das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten.
- Sie dürfen das Material nur unter der Bedingung der Namensnennung und einer Verlinkung auf diese Seite nutzen.
- Sie dürfen das Material nicht kommerziell nutzen.
- Sie dürfen eine bearbeitete Version des Materials nicht verbreiten.
Für die genauen Lizenzbedingungen folgen Sie bitte dem oben angegebenen Link.
11. Quellen und Literatur
- Alexander Demandt: Es hätte auch anders kommen können. Wendepunkte deutscher Geschichte. Berlin 2015.
- Johannes Dillinger: Uchronie. Ungeschehene Geschichte von der Antike bis zum Steampunk. Paderborn 2015.
- Richard J. Evans: Veränderte Vergangenheiten. Über kontrafaktisches Erzählen in der Geschichte. München 2013.
- Benedikt Groß, Eileen Mandir: Zukünfte gestalten. Spekulation. Kritik. Innovation. Mit Design Futuring Zukunftsszenarien strategisch erkunden, entwerfen und verhandeln. Mainz 2022.
- Hans-Peter von Peschke: Was wäre wenn. Alternative Geschichte. Darmstadt 2016.
- Wolfgang Wopperer-Beholz: Business Model Canvas – die Mutter aller Canvases, auf: deutsche-startups.de (15.03.2016).