Was wäre wenn... jemand einen Blog über Alternative History schreiben würde?

2017: Die Präsidentin von François Durpaire und Farid Boudjellal

2017 stand Marine Le Pen durchaus vor einer Überraschung bei den französischen Präsidentschaftswahlen. Der Comic erzählt die fiktive Geschichte eines Frankreichs nach ihrem Sieg.

Ankerpunkt

Der Front National 2017

Der „Front National“, der sich 2018 in „Rassemblement National“ umbenannte, blicke 2017 auf eine über 40-jährige Geschichte zurück.

Die 1972 gegründete Partei war während ihres gesamten Bestehens von der Familie Le Pen geprägt.

Zuerst durch ihren langjährigen Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen. Seit 2011 durch seine Tochter und Nachfolgerin Marine Le Pen.

Ursprünglich war der „Front National“ als Sammelbecken der extremen Rechten in Frankreich gegründet worden.

Neben dem aggressiv fremdenfeindlichen Programm der Partei fiel Jean-Marie Le Pen häufig durch antisemitische Aussagen und positive Bemerkungen zum Nationalsozialismus auf.

Dies verwunderte nicht: Im „Front National“ sammelten sich auch die Anhänger des Generals Philippe Petain (siehe Bild). Dieser hatte von 1940 bis 1945 mit den Nationalsozialisten kooperiert.

Porträt des Generals Philippe Petain
(Everett Collection/Shutterstock)

Der größte Erfolg dieses „Front National“ war 2002 der Einzug von Le Pen in die Stichwahl zum Präsidentenamt. Dort unterlag er aber klar gegen den konservativen Amtsinhaber Jacques Chirac.

Seine Tochter setzte dagegen auf die Strategie der „Entdiabolisierung“.

So verurteilte sie öffentlich antisemitische Aussagen.

Zusätzlich modernisierte sie Programmatik und Auftreten der Partei in Richtung des aktuellen Rechtspopulismus. So schloss sie 2015 sogar ihren Vater, der Ehrenparteivorsitzende war, aus der Partei aus.

Doch nach innen blieb der „Front National“ weiter ein Sammelbecken der extremen Rechten.

Vor allem die Nichte der Vorsitzenden und Enkelin des Gründers, Marion Maréchal-Le Pen, galt als Vertreterin dieses nach wie vor mächtigen Parteiflügels.

Auch die Verbindungen von Marine Le Pen zu ihrem Vater und rechtsextremen Gruppierungen rissen nie ab.

Das alte Parteiprogramm bestand weiter:

  • Eine drastische Reduzierung der Einwanderung
  • Der Austritt aus EU und Euro
  • Ein Verbot von jüdischen und muslimischen Symbolen im öffentlichen Raum
  • Eine Bevorzugung von „Franzosen“ auf dem Arbeitsmarkt und bei Sozialleistungen

Diese Doppelstrategie ging bis 2017 auf: Die bisherige Abscheu in der Öffentlichkeit vor rechtspopulistischen und rechtsextremen Parolen war immer mehr geschwunden.

Stattdessen war Marine Le Pen immer bekannter geworden.

Das depressive, gespaltene Frankreich 2017

Daher verwundert es nicht, dass bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2017 eine Wahl von Marine Le Pen nicht ausgeschlossen war.

Denn diese Wahlen prägten zahlreiche Überraschungen und Unwägbarkeiten.

Vor dem Hintergrund einer langanhaltenden Wirtschaftskrise und einer durch islamistische Attentate in Frage gestellten Identität des Landes zerstörten zahlreiche Affären das alte Parteiensystem.

So waren der sozialistische Amtsinhaber François Hollande sowie der anfangs favorisierte konservative Kandidat François Fillon von Enthüllungen betroffen.

Als stärker Wettbewerber neben Le Pen etablierte sich der ehemalige Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, der aber keine etablierte Partei oder Struktur hinter sich hatte.

Viele Franzosen kritisierten vor allem den neoliberalen Hintergrund von Macron als Eliteschüler und ehemaliger Banker. Sie sahen in ihm lediglich das kleinere Übel in einer Stichwahl.

Dagegen hatte der „Front National“ erste Erfolge auf kommunaler Ebene mit mehreren Bürgermeisterposten gefeiert. 2016 war er bei den Regionalwahlen sogar stärkste Kraft geworden.

Dabei gelang es Le Pen zunehmend – im Gegensatz zu vielen rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien – auch bei Frauen und jüngeren Menschen zu punkten.

Hier „profitierte“ der „Front National“ von hohen Arbeitslosenzahlen, vor allem bei weniger qualifizierten Frauen und Jugendlichen.

Auch beklagten viele Kommentatoren, dass die Gefahren einer Präsidentschaft Le Pens für die meisten Franzosen keine Rolle spielte.

So war die politische Stimmung schon relativ depressiv als ein islamisches Attentat in Paris im April 2017 mit einem toten Polizisten zu weiteren Spekulationen über einen zusätzlichen Stimmenanstieg für Le Pen sorgte.

Wie diese Grafik der letzten Umfragen zur französischen Präsidentschaftswahl 2017 zeigt, war Marine Le Pen (dunkelblaue Linie) fast bis zur Wahl Favoritin.

Grafik mit den Umfragen zur Präsidentschaftswahl Frankreich 2017
(Wikimedia-Autor: Mélencron/CC BY-SA 4.0)

Die „überraschende“ Präsidentschaftswahl

So war es eine erste Überraschung, dass Le Pen nicht als Siegerin des ersten Wahlgangs hervorging, sondern knapp Macron.

Auch danach blieb Frankreich gespalten.

So war lange unklar, wie die Wähler der unterlegenen Sozialisten, Linkspopulisten und Konservativen in der Stichwahl agieren würden.

Daher galt auch die Stichwahl als nicht endgültig entschieden.

Ein Sieg von Le Pen war zwar unwahrscheinlich. Aber Überraschungen, zum Beispiel durch eine niedrige Wahlbeteiligung oder eine hohe Anzahl an ungültigen Stimmen wurden nie ausgeschlossen.

Dennoch schnitt Macron in der Stichwahl mit 66,1 % zu 33,9 % besser ab, als von Umfragen bis dahin erwartet worden war.

So hatten deutlich mehr Anhänger der ausgeschiedenen Kandidaten für ihn gestimmt, als die Umfragen prophezeit hatten.

Inhalt

Der Sieg von Le Pen

„Die Präsidentin“ beginnt mit einem anderen Ausgang: Am 7. Mai 2017 siegt Marine Le Pen in der Stichwahl danke einer Rekordzahl von Nicht-Wählern knapp gegen den Amtsinhaber François Hollande.

Bild eines fiktiven Wahlzettels zur Präsidentschaftswahl 2017
(MasterQ/Shutterstock)

Der Comic folgt in den drauf folgenden Zeiten vier Personen:

  • Der 94-jährigen Antoine Giraud, einer Linken und ehemaligen Kämpferin der Résistance aus dem Zweiten Weltkrieg
  • Ihren Enkeln Stéphane und Tarik sowie deren Freundin Fati, die zwar in Paris geboren ist, aber keine französische Staatsbürgerschaft hat.

Bereits am Wahlabend kommt es zu ersten Straßenschlachten und Streitigkeiten über die Gründe für den Sieg des „Front National“.

Stéphane versucht sofort, mit Hilfe seines Blogs „résistance.fr“ mit Reportagen und Nachrichten Aufklärung und Widerstand zu leisten.

Doch am 17. Mai 2017 übernimmt Marine Le Pen regulär das Amt der Präsidentin.

Schnell beginnt sie ihre Macht auszubauen: So spaltet sie mit der Ernennung des Konservativen Gérard Longuet zum Premierminister dieses Milieu. Kurz darauf beginnen prominente Mitglieder der konservativen Parteien überzulaufen.

So kann Marine Le Pen relativ schnell eine neue konservativ-rechtspopulistische Regierung bilden. In dieser gibt es unter anderem Ministerien für Souveränität, Geburtenförderung und soziale Harmonie.

Bei den nachfolgenden Parlamentswahlen gewinnt der „Front National“ durch das Überlaufen vieler Konservativer eine Regierungsmehrheit.

Das rechte Frankreich

Danach beginnt die Präsidentin Frankreich schnell umzukrempeln, zum Beispiel mit:

  • Dem Aufbau einer Nationalgarde mit 50.000 Mitgliedern
  • Der massiven Verstärkung des Zolls und Kampf gegen die „illegale“ Immigration
  • Der Änderungen des Lehrplans an den Schulen
  • Der Streichung der Subventionen für die öffentlichen Medien

Parallel beginnt das Innenministerium, eine Datenbank über alle Franzosen anzulegen. Mit Hilfe digitaler Überwachungsmaßnahmen werden Informationsdossiers angelegt, um diese gegen Oppositionelle und Journalisten einzusetzen.

Buchcover von "Die Präsidentin"
(Eigenes Bild)

Auch die Daten aus den Sozialversicherungen werden zusammengelegt, um zum Beispiel arbeitslose Ausländer aufspüren und massenhaft abschieben zu können.

Weitere Änderungen ergeben sich in der Europa- und Außenpolitik: Nach einer Volksabstimmung steigt Frankreich aus Euro und EU aus.

Ebenso tritt die neue Regierung aus der NATO aus und nähert sich Russland an.

Durch die massive Ausweisung auch von ausländischen Arbeitskräften sowie der Abwertung des neuen Francs kommt es aber zu enormen wirtschaftlichen Verwerfungen.

Hinzu kommen immer mehr Proteste und Unruhen in der Bevölkerung.

Von dieser Politik sind auch die Figuren des Comics betroffen:

  • Stéphane und Fati werden ein Paar, aber Fati wird von der Polizei in den Senegal abgeschoben.
  • Antoine Giraud stirbt wütend, aber auch verbittert über die Abschiebung.
  • Stéphane und Tarik werden wegen ihres Blogs zuerst im Internet diffamiert und am Ende verhaftet.

Es zeigt sich immer mehr, wie sehr sich Frankreich binnen nicht einmal eines Jahrs verschoben hat.

Am 20. Dezember 2017 erhält der verstorbene Jean-Marie Le Pen ein Staatsbegräbnis.

Am 13. Januar 2018 wird der Parlamentspräsident von Rechtsextremisten entführt, die so die Präsidentin zu einem noch radikaleren Kurs zwingen wollen.

Am 6. Februar verkündet Präsidentin Marine Le Pen den Ausnahmezustand für ganz Frankreich.

Der Ausgang bleibt offen.

Rezension

Ein realistischer Comic

„Die Präsidentin“ von François Dupaire und Farid Boudjellal startet mit folgendem Verweis:

Jede Ähnlichkeit des im Folgen Geschilderten mit tatsächlichen Gegebenheiten ist rein zufällig, es sei denn, sie folgt einfach aus der Anwendung des Programms des Front National.

Alle Zitate aus dem Programm des Front National in diesem Buch sind wörtlich wiedergegeben und so genau wie möglich übersetzt.

Vorwort von „Die Präsidentin“

Der Comic ist sehr textlastig, aber ich habe ihm angemerkt, dass mit François Duport ein Historiker mitverantwortlich war.

Die Erzählung ist immer verbunden mit Erklärungen zur Geschichte des „Front National“, zu historischen und wirtschaftlichen Verweisen oder Personen.

Zum Beispiel zitieren einige Seiten das damalige Parteiprogramm, um zu zeigen, wie realistisch das Szenario ist.

Auch tauchen viele Namen aus der „realen“ Geschichte auf, um die alternative Geschichte möglichst nahe an den realen Verhältnissen zu halten.

Allerdings sind es so viele Namen, dass selbst Leute wie ich, die sich im Studium mit der Politik Frankreichs und des Élysée-Palasts (siehe Bild) als Sitz der französischen Präsidenten beschäftigt haben und sich immer noch dafür interessieren, nicht hinterherkommen.

Foto eines Eingangs zum Elysee Palast
(Kiev.Victor/Shutterstock)

Zuletzt noch ein Wort zum Zeichenstil von Farid Boudjellal.

Ich persönlich mag zwar schwarz-weiße Comics wegen ihres Minimalismus.

Bei seinem sehr minimalistischen Stil hatte ich allerdings Schwierigkeiten, beim Lesen, zum Beispiel die beiden Figuren Stéphane und Tarik auseinander zu halten.

Die vier Figuren selbst bleiben vor dem Hintergrund der großen Entwicklungen während der Handlung größtenteils blass.

Nur Antoine Giraud wirkt vielschichtig, aber auch wie ein Abgesang auf die alte politische Linke, die schließlich stirbt.

Das gruselige Frankreich

Was das Szenario unter dem Blickpunkt Alternative History betrifft, kann ich folgendes mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2022 sagen:

„Die Science-fiction von gestern kann die realistische Gegenwart von morgen sein.“

„Die Präsidentin“ von Francois Dupaire und Farid Boudjellal zeigt ein äußerst realistisches Alternative History Szenario.

Anfangen mit einem fiktiven Sieg bei den Wahlen 2017, der auf Faktoren fußt, die vor den tatsächlichen Wahlen in der Diskussion standen:

  • Schwache traditionelle rechte und linke Parteien
  • Eine soziale, wirtschaftliche und politische Krise, die Anti-Systemparteien zu Gute kommt
  • Ein weltweiter Trend zu rechten Parteien und Regierungen
  • Ein schwacher Amtsinhaber sowie geschwächte Gegenkandidaten
  • Eine hohe Anzahl von Nicht-Wählern in der entscheidenden Stichwahl

Da die Autoren Emmanuel Macron im Comic nicht einmal erwähnen, stellt sich sicherlich die Frage: „Was wäre gewesen, wenn Emmanuel Macron 2017 nicht angetreten wäre?“

2015 war Macron aber noch Wirtschaftsminister und gründete erst im Jahr darauf seine Bewegung „En Marche“.

Gruselig, aber realistisch bleibt es nach der Machtübernahme von Marine Le Pen. Der Comic zeigt, wie schnell ein demokratisches System zerbrechen kann.

Grafik mit zerbrochener Trikolore
(Evgenii Emelianov/Shutterstock)

In Frankreich ist es üblich, dass neu gewählte Präsidenten danach eine Parlamentswahl veranlassen, um sich eigene Mehrheiten in der Nationalversammlung und im Senat zu besorgen.

Die Spaltung der Konservativen nimmt die Diskussionen vorweg, die sich 2017 vor den Stichwahlen in Frankreich abgespielt haben. Schließlich hatten deutlich mehr konservative Wähler angekündigt, für Le Pen zu stimmen, als es später taten.

Auch die schnelle Umsetzung des Programms des „Front National“ durch die starke Stellung des Präsidentenamts fußt durchaus auf historischen Vorbildern.

Zum Beispiel des Begründers der V. französischen Republik: Charles de Gaulle führte überhaupt erst das Instrument der landesweiten Volksabstimmung ein, um seine Politik auch gegen den Widerstand der Eliten durchzusetzen.

Die gruselige Realität

Der Comic zeigt somit sehr klar, was ein zentralistisch organisierte System mit für den Kampf gegen den Terrorismus beschlossenen Gesetzen sowie digitalen Mitteln unter einer solchen Präsidentin anrichten kann.

Vor allem, wen diese skrupellos und propagandistisch geschickt vorgeht. Der Comic nimmt damit 2015 diverse Entwicklungen in Polen, Ungarn und Österreich vorweg.

Wer sich noch mehr gruseln will, sollte sich vor Augen halten, dass in „Die Präsidentin“ der internationale Widerstand gegen das rechte Frankreich unter anderem von einer Präsidentin Hillary Clinton angeführt wird. Nicht einmal die Autoren konnten sich ein Szenario mit einem Präsidenten Donald Trump vorstellen.

In diesem Sinne empfehle ich den Comic sehr weiter: Er zeigt, was ein Alternative History mit realistischem Hintergrund leisten kann. Vor allem mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2022.

Quellen und Literatur

  • François Durpaire, Farid Boudjellal: Die Präsidentin. Paris 2015.

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  1. Hallo Bastian!

    Vielen Dank für die Rezension. Leider leben wir hier in Frankreich nun auch ohne Marine Le Pen als Präsidentin schon wieder seit Monaten im Ausnahmezustand. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum einer neuen Umfrage zufolge,weniger als die Hälfte der Franzosen den Rassemblement National für eine Bedrohung der Demokratie halten. Ich glaube trotzdem nicht, dass Marine Le Pen die nächsten Wahlen gewinnt.

    Viele Grüße aus Nizza
    Feli

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