Nicht nur die reale Geschichte bietet Potenzial für „Alternative History“. Auch in den fiktiven Comic-Universen von Marvel gibt es viele alternative Geschichten.

Ankerpunkt

Das goldene Zeitalter Englands

Das Zeitalter der Königin Elisabeth I. (1533-1603, siehe Bild) galt als erstes „Goldenes Zeitalter“ Englands.

Historisches Porträt von Elisabeth I.
(Everett Collection/Shutterstock)

Während ihrer Regentschaft von 1558 bis 1603 gelang es dem Königreich, sich als gleichberechtigte Macht gegenüber den bis dahin dominierenden Ländern Spanien, Portugal und Frankreich zu etablieren.

Besonders die Hauptstadt London entwickelte sich unter Elisabeth I. zur europäischen Metropole.

Das Land legte so die Grundlagen für seine spätere See- und Weltmacht. Wegmarken waren:

  • 1559 die Erneuerung des „Act of Supremacy“, der festlegte, dass nicht der Papst, sondern die englische Krone das Oberhaupt der anglikanischen Kirche war. Ebenso setzte Elisabeth I. die protestantische Gottesdienstordnung wieder ein.
  • 1570 die Exkommunikation durch den Papst, der damit alle katholischen Untertanen vom Treueeid gegenüber Elisabeth I. entband und stattdessen zum Widerstand aufforderte.
  • 1577 bis 1580 die Weltumseglung von Franics Drake, die als Höhepunkt des erfolgreichen Kaperkrieges gegen die spanischen Kolonien in Mittel- und Südamerika galt.
  • 1585 die ersten Versuche, in Nordamerika Kolonien zu gründen.
  • 1587 die Hinrichtung der ehemaligen schottischen Königin Maria Stuart, die bis dahin die Hoffnung der englischen Katholiken bei einem Tod von Elisabeth war.
  • 1588 der Sieg über die „Spanische Armada“, die eine Invasion und Rekatholisierung der Britischen Inseln einleiten wollte.

Zudem etablierte sich England endgültig als anglikanisch-protestantisch und damit stark anti-katholisch. Dies führte zu mehreren Verschwörungen gegen die unverheiratete Königin.

Als Gegenmaßnahme etablierte ihr Staatssekretär Francis Walsingham aus eigenen Mitteln ein europaweites Spionagenetzwerk. Er warb dabei nicht nur an ausländischen Höfen Spione an, sondern ließ auch in England selbst katholische Gruppen unterwandern oder durch Folter ausheben. Dies galt als Start für die moderne Spionage.

Die verlorene Kolonie Roanoke

Jedoch gab es auch Rückschläge: Vor allem die versuchte Gründung der Kolonie Roanoke im heutigen North Carolina gilt bis heute als Mysterium der Geschichte der USA.

1587 hatte John White auf einer Binneninsel an der Küste eine Kolonie gegründet, die erstmals aus Handwerkerfamilien bestand und daher größere Überlebenschancen haben sollte. Er benannte sie zu Ehren der Königin „Virginia“, ebenso wie seine dort als erstes Kind geborene Tochter.

Im selben Jahr verließ er die Kolonie, um Angesichts von Dürren und zunehmenden Konflikten mit einheimischen Stämmen Hilfe aus dem Mutterland zu holen. Dort saß er allerdings wegen der Invasion der „Spanischen Armada“ bis 1590 fest.

Als er nach drei Jahren zurückkehrte, war die Kolonie verlassen und die Kolonisten verschwunden.

Er fand noch auf einem Stück Palisade das eingeritzte Wort „Croatoan“ (siehe Bild), das auf einen befreundeten Indianerstamm hinwies. Dennoch blieb das Rätsel der „Lost Colony“ bis heute nicht abschließend gelöst.

Historische Darstellung der zweiten Expedition nach Roanoke
(Morphart Creation/Shutterstock)

Die Meisterin der Inszenierung

Trotz solcher Rückschläge erwies sich Elisabeth I. in ihrer gesamten Regierungszeit nicht nur als kompetente Regentin, sondern wusste sich auch geschickt zu inszenieren.

Dies zeigt sich zum Beispiel in ihrer Statue (siehe Bild) in der Fort Raleigh National Historic Side in Manteo. Diese Einrichtung beschäftigt sich auch mit der Kolonie Roanoke.

Foto einer Statue von Königin Elisabeth I.
(Zack Frank/Shutterstock)

Sie ließ sich zum Beispiel als jungfräuliche Königin, die „Virgin Queen“ verehren, und kaschierte so die Kritik an ihrer fehlenden Heirat und dem Mangel eines legitimen Erben für den Thron.

Wie stark sie das Prinzip der Inszenierung verinnerlicht hatte, zeigte ein Ausspruch von ihr: „Wir Fürsten sind wie auf Bühnen gestellt, der ganzen Welt zum Angesicht.“

Das Ende der Regierungszeit war dagegen überschattet von Aufständen in Irland, ihrer immer strengeren Religionspolitik und dem immer noch andauernden Konflikt mit Spanien.

Als sie am 24. März 1603 an einem Fieber starb, benannte sie den schottischen König Jakob VI., englisch James, zum Nachfolger.

Dieser zeigte sich als durchaus fähiger König, war aufgrund seiner relativ offenen Homosexualität, seiner Befürwortung von Hexenverfolgungen und seiner Konflikte mit dem englischen Parlament in England durchaus umstritten.

Erst in späterer Zeit stieg Elisabeth I. endgültig zum englischen Nationalmythos auf.

Inhalt

Die Helden von Marvel im Jahr 1602

Der Comic beginnt wie im Titel angedeutet am Ende der Regierungszeit von Königin Elisabeth I. und folgt dabei parallel mehreren Erzählsträngen, die sich nach und nach verbinden.

Cover von Marvel 1602
(Eigenes Bild)

Über England kommt es zu unerklärlichen Wetterphänomenen, die unter der Bevölkerung für Aufruhr und Weltuntergangbefürchtungen sorgen.

Die Königin beauftragt daraufhin ihren Geheimdienstchef Sir Nicholas Fury und ihren Hofarzt Stephen Strange, den Gründen dafür nachzugehen.

Als Fury mit seinem Assistenten Peter Parquah von einem Attentäter angegriffen wird, verdichten sich die Hinweise, dass noch andere Gefahren im Dunkeln lauern.

Stephen Strange wartet inzwischen auf einen geheimen Schatz der Templer, der eventuell eine Lösung bietet. Doch sein Diener Matthew Murdoch wird auf dieser Mission von seiner Partnerin Natascha an den Grafen Otto von Doom aus Latveria verraten.

In Spanien will die Inquisition dagegen einen Menschen mit Flügeln verbrennen. Dieser wird aber vorher von einer Gruppe Mutanten unter der Führung von Scotius Summerisle gerettet.

Doch der Großinquisitor, der die „Hexenbrut“ aus der Schule von Carlos Javier weiter vernichten will, konspiriert mit dem schottischen König James, der ebenfalls gegen Magier und Hexen vorgehen will.

Zuletzt kommt das junge Mädchen Virginia Dare aus der nordamerikanischen Kolonie mit ihrem indianischen Beschützer Rojhaz in London an. Sie will die Königin um Hilfe bitten, da die Kolonie bisher nur durch Rohjaz überlebt hatte.

Der drohende Untergang der Alternativwelt

Die Entwicklung verschärft sich, als die Wetterphänomene tatsächlich die Welt gefährden.

Gleichzeitig fällt Königin Elisabeth einem Attentat von Dooms zum Opfer und James als neuer König befielt Fury die Schule von Javier anzugreifen.

Als das Reich Latveria in den Fokus gerät, stellt sich heraus, dass von Doom dort vier Menschen gefangen hält, mit deren Wissen er sein Attentat vorbereitet hat: die verschollenen Mitglieder der Fantastick-Crew.

Am Ende zeigt sich, dass nur, wenn alle zusammenarbeiten, der drohende Weltuntergang aufgehalten wird. Und dass das Auftauchen der Helden im Jahr 1602 kein Zufall ist.

Um die Welt zu retten und das Rätsel zu lösen, müssen sie zum Ursprung der Phänomene reisen: die nordamerikanische Kolonie – Roanoke.

Rezension

„Marvel 1602“ beginnt mit einer guten Einführung: Sowohl in das Zeitalter von Königin Elisabeth I. als auch was die Protagonisten betrifft.

Die Bilder und das Setting fangen die damalige Zeit gut ein, auch wenn durch die Helden die Umgebung teilweise eine andere ist als in der Realität des Jahres 1602.

Auch erscheinen mir manche Zeichnungen noch stark mittelalterlich geprägt. So zum Beispiel, wenn Soldaten mit Schwert und Schild, aber nicht mit Musketen bewaffnet sind.

Auch bettet die Geschichte die Charaktere gut in das Zeitalter, dessen Möglichkeiten, Kultur (siehe Bild) und Wissenschaften ein. So spekulieren die Charaktere über die Vorkommnisse gut aus dem Wissensstand der damaligen Zeit heraus.

Historische Darstellung der Kleidung um 1602.
(Morphart Creation/Shutterstock)

Das Auftauchen der Helden gibt dem Comic neben der eigentlichen Handlung einen zweiten, guten Spannungsbogen.

Einige wie Fury sind relativ schnell erkennbar. Bei anderen macht es durchaus Spaß, zu rätseln, wo und wie sie in der Geschichte erscheinen.

Die Geschichte spielt auch explizit damit, einige bekannte Helden zuerst zu verbergen und erst am Ende deren Rolle aufzudecken.

Währenddessen nimmt sich der Comic Zeit, die Charaktere einzuführen und einzelne Motivationen zu beleuchten. Dabei beschäftigen sich einige Seiten nur mit den Gedanken der Charaktere und die Texte dazu haben mir sehr gut gefallen.

Für Fans von Marvel, die noch mehr mit den Hintergründen der Comics und der Charaktere vertraut sind, dürfte das noch mehr gelten.

Es passt auch gut zum Ankerpunkt des „Elisabethanischen Zeitalters“, dessen Namensgeberin, wie oben erwähnt, eine Meisterin der Inszenierung und damit des Erzählens ihrer eigenen Geschichte war.

Ärgerlich ist allerdings, dass die Geschichte nicht für sich stehen kann, sondern wieder ein „Deus ex machina“ alles auslöst.

Letzteres wirft aus meiner Sicht einen Schatten auf einen Comic, der eine gute Alternative History des Marvel Universums bietet.

Quellen und Literatur

  • Neil Gaiman: Marvel 1602. März 2010.

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