Die Geschichte des Landes ist nicht nur im Verhältnis zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen der Flamen und Wallonen reich an Wendungen und damit Ankerpunkten. Belgien zeigt sich in den historischen Hintergründen auch von einer anderen Seite als der des „künstlichen“, nur zerstrittenen Landes.
Daher leistet dieser Artikel einen Beitrag zur Alternative History jenseits der Standard-Szenarien.
Dieser Beitrag erschien zum ersten Mal am 22. September 2019. Er wurde am 15. September 2024 überarbeitet.
Ankerpunkte
- 1302: Die „Brügger Frühmette“
- 1419: Der erste Herzog von Burgund
- 1485: Der gescheiterte Aufstand gegen die Habsburger
- 1567: Der kuriose Beginn des Achtzigjährigen Krieges
- 1577: Die gescheiterte Genter Pazifikation
- 1585: Die verheerende Sperre der Schelde
- 1598: Die einmaligen belgischen Habsburger
- 1789: Die erfolglose „Brabanter Revolution“
- 1830: Die erfolgreiche belgische Revolution
- 1844: Der flämische Rechtschreibkrieg
- 1898: Das zweisprachig-einsprachige Königreich
- 1914: Das wehrhafte Belgien
- 1940: Die knappe Flucht der Exilregierung
- 1945: Die verhinderte Zerstörung des Genter Altars
- 1950: Die umstrittene Königsfrage
- 1952: Brüssel als verzögerte „Hauptstadt Europas“
- 1958: Die knappe Fertigstellung des Atomiums
- 1963: Die starre Sprachgrenze
Quellen und Literatur
1. 1302: Die erfolgreiche Brügger Frühmette und Sporenschlacht
Um 1300 entstand auf Gebiet des heutigen Belgiens in Flandern eine prosperierende Region. Städte wie Antwerpen, Brügge und Gent entwickelten sich durch die Tuchproduktion und den Handel zu neuen Zentren mit einer selbstbewussten Bürgerschaft. Ihr Reichtum erlaubte es ihnen, kampfstarke Milizen auszurüsten.
Die relativ unabhängige Grafschaft Flandern geriet damit in das Blickfeld des benachbarten Königreichs Frankreich. Dessen König Philipp IV. unterwarf 1297 das Land und erhöhte mithilfe französischer Beamter die Steuern massiv.
Fünf Jahre später kam es zum Aufstand unter Verwandten des abgesetzten Grafen, Guido von Flandern und Wilhelm von Jülich. Als Auftakt stürmten die Bürger in Brügge unter Jan Breydel und Pieter de Coninck (siehe Bild einer Statue unten) das Rathaus und massakrierten in der „Brügger Frühmette“ sowohl die französischen Verwalter als auch die französische Garnison.
Als Reaktion setzte Philipp IV. ein Heer in Bewegung, dass die aufständischen Städte zurückerobern sollte. Es stand unter dem Oberbefehl des erfahrenen Grafen Robert von Artois und zählte knapp 2.000 Ritter als Kern.
Vor Kortjik in Westflandern trafen die Angreifer am 11. Juli 1302 auf das flämische Aufgebot mit knapp 10.000 Mann, das sich vor allem aus den Bürgermilizen der Städte rekrutiert hatten. Die wenigen flämischen Ritter hatten sich eingereiht.
Hier kam es zur „Sporenschlacht“. Denn die angreifenden Franzosen scheiterten am sumpfigen Gelände, das die Flamen zusätzlich mit Gruben präpariert hatten, und an den geschlossenen Linien der Verteidiger.
Als die Flamen anschließend mit ihren Hellebarden, den „Goedendags“, zum Angriff übergingen, erlitten die Franzosen schwere Verluste. Robert von Artois sowie zwei weitere Marschälle von Frankreich fielen.
Damit verhinderte die Grafschaft Flandern mit den Städten eine vorzeitige Integration in das Königreich Frankreich. Die Sieger brachten mehr als 500 vergoldete Sporen als Beute in die Liebfrauenkirche von Kortjik und heute feiern die Flamen den Jahrestag der Schlacht als den Nationalfeiertag „Guldensporenslag“.
Wie hätte sich die Grafschaft Flandern unter einer weiteren französischer Besatzung weiterentwickelt?
2. 1419: Der erste Herzog von Burgund
1384 geriet Flandern durch Heirat an die Herzöge von Burgund, die mit Philipp dem Kühnen durch den jüngsten Sohn des Königs von Frankreich begründet wurden.
Dieser erwarb zwar benachbarte Gebiete wie die Grafschaft Artois im Süden Flanderns, sah er sich aber in erster Linie als Mitglied des französischen Königshauses mit Ambitionen in Paris.
Anders sein Enkel, der 1419 Herzog wurde: Philipp der Gute (1396-1467) betrachtete seine burgundischen und flandrischen Ländereien (siehe Bild unten) als eigenen Komplex. Daher begann er sie zu erweitern, zum Beispiel durch den Kauf des Erbrechts der Grafschaft Namur, die 1429 Teil von Burgund wurde.
1433 erzwang Philipp die gewaltsame Annexion von Holland, Zeeland und Hennegau. Drei Jahre zuvor hatte er bereits durch Erbfall die Herzogtümer Brabant und Limburg erworben. 1451 kaufte er noch Luxemburg von deren verschuldeten Herrscherin.
In allen Gebieten seines Herrschaftskomplexes gab es eigene Ständeversammlungen, die Steuern zustimmen mussten. Diese tagten 1464 für die nördlichen Gebiete erstmals gemeinsam in Brügge, woraus sich die Bezeichnung Generalstaaten entwickelte.
Ein erster Nukleus von Belgien (und den Niederlanden).
Wie hätten sich Flandern und die anderen Gebiete entwickelt, wenn sich Philipp der Gute wie seine Vorgänger nach Frankreich orientiert hätte?
3. 1485: Der gescheiterte Aufstand gegen die Habsburger
Unter den Grafen von Flandern und den Herzögen von Burgund florierten die Städte weiter. Einzelne wie Brügge, Gent (siehe Bild unten) und Ypern gelang es sogar, Teile ihres Umlands unter ihren Einfluss zu bringen.
Damit konnten sie die eigene Lebensmittelversorgung steuern, erreichten aber nie den Status von unabhängigen Stadtrepubliken wie zum Beispiel Mailand in Italien. Dazu war die Macht der Grafen und Herzöge zu groß.
1477 kam es jedoch zu einer Schwächung der bisherigen Herrschaft. Denn der Burgunderherzog Karl der Kühne, Sohn Philipps des Guten, starb bei der erfolglosen Belagerung von Nancy ohne einen männlichen Nachfolger zu haben.
Seine Tochter Maria von Burgund musste zuerst den Generalstaaten im „Großen Privileg“ das Recht einräumen, aus eigener Initiative zusammenzukommen und Kriege der Herzogstochter zu genehmigen.
Maria von Burgund bot daraufhin dem österreichischen Erzherzog Maximilian eine Heirat an, was der Habsburger annahm. Sie wollte damit eine Zwangsheirat mit dem französischen Königshaus verhindern, da der französische König sich das gesamte burgundische Erbe einverleiben wollte.
Zwar kam es bereits im August 1477 zur Heirat und Maximilian nahm im Burgundischen Erbfolgekrieg den Kampf mit den französischen König auf.
Da er aber keine eigenen finanziellen Mittel hatte, mussten vor allem die Generalstaaten den Krieg finanzieren, was seine Popularität vor Ort schwächte.
Als Maria von Burgund 1482 nach einem Reitunfall starb kam es zur Eskalation.
Gent startete einen Aufstand und nahm die Kinder von Maximilian und Maria in Gewahrsam. Die Genter Rebellen erklärten sich zu den Vormündern der Kinder, denen nach ihrer Ansicht die Herrschaft zustand, und verkündeten, mit Frankreich Frieden schließen zu wollen.
1488 eskalierte die Situation weiter. Gent wollte sich zu einer Stadtrepublik unter dem Schutz Frankreichs erklären. Als Maximilian von Brügge aus gegen Gent vorgehen wollte, entwaffneten Aufständische seine Landsknechte und nahmen auch ihn gefangen.
Er lehnte jedoch alle Forderungen ab, seine Herrschaftsansprüche fallen zu lassen. Obwohl ihn Teile der Aufständischen mit dem Tod drohten.
Erst im Mai 1488 ließen ihn die Aufständischen gegen Zusagen frei.
Maximilian hielt sich an keine davon und schlug den Aufstand im Laufe von vier Jahren nieder. Er sicherte damit die Herrschaft der Habsburger über die Generalstaaten.
Was wäre gewesen, wenn sich Gent und Brügge unter französischen Schutz für unabhängig erklärt hätten?
4. 1567: Der kuriose Beginn des Achtzigjährigen Krieges
Unter dem Habsburger Karl V. lösten sich die Generalsstaaten 1548 im Vertrag von Augsburg weitgehend aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Damit einherging eine gewisse Zentralisierungspolitik, die aber auf Widerstand in den einzelnen Städten und Provinzen stieß.
Diese Konflikte verschärften sich, je mehr protestantische Glaubensströmungen vor Ort Anhänger fanden. Denn Karl V. verfolgte diese als Häretiker hart, was weiteren Widerstand provozierte. Denn in den Generalstaaten galt die Gewissensfreiheit in Glaubensfragen als hohes Gut.
Zu einer weiteren Verschärfung kam es unter Philipp II., der Karl V. als König in Spanien und Herrscher über die Generalstaaten nachfolgte. Denn er versuchte das Land weiter von Spanien aus zu zentralisieren. Dies stieß auf den Widerstand des lokalen Adels.
1564 zwangen die Hochadeligen der Generalstaaten Philipp zu ersten Zugeständnissen und zwei Jahre später forderten 300 Vertreter des niederen Adels von der Statthalterin Philipps, Margarete von Parma, erfolgreich ein Aussetzen der bisherigen Ketzergesetze.
Doch diese vergleichsweise tolerante Religionspolitik nahmen fanatische Calvinisten zum Anlass in den Generalstaaten zum „beeldenstorm“, einem Bildersturm in den Kirchen, anzusetzen. Diese Verwüstungen diskreditierten die Forderungen und die Machtstellung des lokalen Adels.
Als Reaktion kam es zu einem kurzzeitigen Schulterschluss zwischen Adel und Statthalterin. Es folgten wenigen Hinrichtungen und kleinere Aufstände der Calvinisten wurden niedergeschlagen. Im Frühjahr 1567 war die öffentliche Ordnung wiederhergestellt und die jegliche protestantische Predigt verboten.
Nun zeigte sich aber ein Nachteil, der ursprünglich einen Vorteil für die lokalen Adeligen bedeutet hatte. Die Kommunikationswege zum König in Spanien waren lang. Briefe brauchten mehrere Wochen, um ihn zu erreichen und eine Reaktion hervorzurufen.
Dies galt auch für den Brief, der die erfolgreiche Wiederherstellung der Ordnung nach Madrid melden sollte.
In der Zwischenzeit hatte Philipp den Herzog von Alba mit 10.000 spanischen Elitesoldaten entsandt. Alba plädierte für ein hartes Durchgreifen. Im sogenannten „Blutrat“ verurteilte ein Sondergericht in den nächsten Jahren über 1.000 Menschen zum Tode. Besonders die Enthauptung der Grafen Egmont und Hoorn in Brüssel galt als Symbol der spanischen Schreckensherrschaft. Denn beide Adeligen waren Teil der bisherigen Regierung und gehörten zu den mächtigsten Männern der Generalstaaten.
Danach schaukelte sich der Konflikt immer weiter hoch, bis er den protestantischen Aufstand, den Achtzigjährigen Krieg und die Abspaltung der Niederlande an dessen Ende auslöste.
Was wäre gewesen, wenn der Brief über die Wiederherstellung der Ordnung rechtzeitig angekommen wäre?
5. 1577: Die gescheiterte Genter Pazifikation
Der von Wilhelm von Oranien begonnene Aufstand schien bis 1572 wenig erfolgreich zu verlaufen. Mit einer Mischung aus kalkulierter Grausamkeit und überlegener Militärmacht konnte Alba die Aufständischen bis auf Holland zurückdrängen.
Dort stockte sein Angriff aber am hartnäckigen Widerstand der mit dem Rücken zur Wand stehenden Aufständischen. Belagerungen scheiterten am harten Winter und an bewusst herbeigeführten Überflutungen. Alba wurde abberufen und sein Nachfolger konnte aufgrund des Staatsbankrotts von Spanien keine weiteren Angriffe organisieren, bis er plötzlich starb.
In diesem Machtvakuum verhandelten die Generalstaaten der 17 Provinzen über einen Friedensvertrag, der das ganze Land unter Wilhelm von Oranien vereinte: Einzigartig waren Kapitel zur Glaubensfreiheit, die ein Unterdrücken von katholischen oder calvinistischen Minderheiten verboten.
Die Kräfte hinter diesem Ausgleich scheiterten jedoch an den Glaubensextremisten sowohl auf calvinistischer als auch auf katholischer Seite. 1579 wandten sich die Katholiken in der Union von Arras wieder den Spaniern zu, während sich die Calvinisten in der Union von Utrecht zusammenschlossen.
Als Verhandlungen zwischen diesen beiden Seiten ebenfalls scheiterten, ging der Achtzigjährige Krieg weiter.
Wie hätte sich eine erfolgreichere Pazifikation auf die 17 Provinzen ausgewirkt?
6. 1585: Die verheerende Sperre der Schelde
Um 1500 war Antwerpen mit über 100.000 Einwohnern eine der größten Städte Europas. Durch das Versanden des Hafens von Brügge hatte sich der Überseehandel der Generalstaaten dorthin verlagert und machte die Stadt reich. Zeitweise war der Hafen der größte Europas.
Zeichen dieses Reichtums waren zahlreiche repräsentative Gebäude in der Altstadt (siehe Bild) und die zweitälteste Börse der Welt, in der die Händler Güter anboten und verkauften.
Diese Zeit endete mit den religiösen Spannungen und den daraus resultierenden Kriegen zwischen den katholischen Spaniern und den protestantischen Aufständischen.
Zwar gelang es den Spaniern 1585 die Stadt zurückzuerobern. Allerdings sperrten die sich bildenden Niederlande als Reaktion die Mündung der Schelde in die Nordsee und damit die Lebensader der Handelsstadt.
Bedeutete die Flucht von zahlreichen wohlhabenden Protestanten in die nördlichen Niederlande einen harten Einschnitt in die Stadtgeschichte, verhinderte die Sperrung der Schelde eine Erholung.
Denn diese Sperre hatte Jahrhunderte bestand. Sie wurde im Westfälischen Frieden 1648 erstmalig bestätigt und konnte trotz zahlreicher Verhandlungen nach den vielen Kriegen im 18. Jahrhundert nicht komplett aufgehoben werden.
Erst im 19. Jahrhundert mit der Bildung des Vereinigten Königreichs der Niederlande entfiel die Grenze zwischen dem heutigen Belgien und der Niederlande. Bis zur Unabhängigkeit Belgiens 1830 blühte der Handel wieder auf.
Danach kam es zu Rückschlägen, da die Niederlande hohe Zölle für die Durchfahrt der Scheldemündung einforderten.
Erst 1863 entfielen diese Gebühren nachdem Belgien und verschiedene deutsche Staaten mit Handelsbeziehungen zu Antwerpen eine enorme Einmalzahlung an die Niederlande geleistet hatten.
Seitdem floriert der Hafen und ist erneut die Basis für den Wohlstand von Antwerpen.
Wie hätte sich Antwerpen entwickelt, wenn die Schelde nicht so lange blockiert worden wäre?
7. 1598: Die einmaligen belgischen Habsburger
Der andauernde Krieg belastete vor allem Brabant um Brüssel und Flandern bis Antwerpen schwer. Denn neben den Kriegszerstörungen und den verlorenen wirtschaftlichen Verbindungen zu den späteren Niederlanden kam es zu erheblichen Abwanderungen der protestantischen Bevölkerung. So verloren Antwerpen und Gent die Hälfte ihrer Bevölkerung.
Die Region schöpfte wieder etwas Hoffnung, als der spanische König Philipp II. die Herrschaft über die südlichen Generalstaaten an seine Tochter Isabella und ihren Mann Albrecht von Österreich übertrug. Sie sollten unabhängig von Spanien agieren und nur für den Fall, dass sie keine Nachfolger hatten, sollte das Land wieder unter spanische Herrschaft kommen.
Beide bemühten sich, ihr neues Herrschaftsgebiet wiederaufzubauen. So schlossen sie 1609 in Antwerpen einen zwölfjährigen Waffenstillstand mit den Niederlanden.
Die Wirtschaft begann sich so etwas zu erholen und Brüssel entwickelte sich wieder zu einem künstlerischen Zentrum. Auch war vor allem Isabella durch ihre tolerante und volksnahe Art bei der Bevölkerung sehr beliebt.
Unter ihrer Herrschaft kam es zur Gegenreformation und einem Aufblühen von katholisch geprägter Kunst wie in den Bildern von Peter Paul Rubens in Antwerpen. Damit prägte der Katholizismus auf die nächsten Jahrhunderte das spätere Belgien.
Doch da kein Kind des Paares das Erwachsenenalter erreichte, war klar, dass ihre Herrschaft nur eine Episode bleiben würde. Daher griff Spanien bereits vor dem Tod von Albrecht 1621 und von Isabella 1633 wieder verstärkt ein. So verschärften spanische Militärs und Beamte zum Beispiel die Spannungen mit den Niederlanden wieder, so dass 1621 erneut Krieg ausbrach.
Wie hätte sich ein dritter Familienzweig der Habsburger für Belgien, die Niederlande und Europa ausgewirkt?
8. 1789: Die erfolglose „Brabanter Revolution“
So blieb das spätere Belgien unter der Herrschaft der spanischen Habsburger und nach deren Aussterben gingen die Provinzen im Frieden von Utrecht 1713 an deren österreichische Verwandte.
Diese regierten die Region im 18. Jahrhundert zuerst aus der Ferne und förderten nur den Ausbau der Wirtschaft etwas. Sofern die Steuerabgaben entrichtet wurden, mischte sich Wien wenig in die Angelegenheiten vor Ort ein.
Dies änderte sich 1780 mit dem Herrschaftsantritt des Kaisers Joseph II. Zwar besuchte der Habsburger 1781 als erster Herrscher seit Isabella das Land, zog Erkundigungen ein und empfing in wenigen Wochen über 5.000 Menschen.
Doch sein Ideal war ein zentralistischer Musterstaat, der überall nach den gleichen Kriterien zum Wohl des Volkes handelte. So erließ er ein Toleranzedikt zugunsten der Protestanten und Juden, hob Klöster auf, unterstellte die Priester dem Staat und führte die zivile Eheschließung ein. Zudem hob er die Ständeversammlungen der Provinzen auf, teilte die Provinzen neu ein und reformierte die bisherigen Gerichte grundlegend.
Vor allem die Glaubensreformen griffen tief in das Alltagsleben der Bevölkerung ein und provozierten entschiedenen Widerstand gegen die zentralistischen Maßnahmen aus Wien.
1788 kam es zum gewaltsamen Aufstand. Die sogenannten „Patrioten“ wehrten sich gegen die Reformen und bis Ende des Jahres hatten sie bis auf Luxemburg und das von den Habsburgern unabhängige Fürstbistum Lüttich fast das gesamte Gebiet des späteren Belgiens unter Kontrolle.
In Lüttich kam es jedoch unabhängig von den österreichischen Niederlanden 1789 ebenfalls zu einer Revolution, die aber demokratisch orientiert war und den Fürstbischof zuerst vertrieb.
Im Januar 1790 gründeten die Aufständischen in Brabant die „Vereinigten Belgischen Staaten“. Aber die maßgebliche konservative Strömung orientierten sich an der Regierungsform der mittelalterlichen Versammlungen der einzelnen Stände und an der Vormachtstellung der katholischen Kirche aus der Zeit vor den Reformen.
Die Aufstände im späteren Belgien hielten sich aber nicht mehr lange. Nachdem Preußen keine Unterstützung für die „Brabanter Revolution“ zusagte, konnten österreichische Truppen sowohl die Österreichische Niederlande als auch das Fürstbistum Lüttich wieder unter Kontrolle bringen.
Dies währte allerdings nur kurz, denn 1792 eroberten französische Revolutionstruppen erstmals das Land.
Was wäre passiert, wenn die "Vereinigten Belgischen Staaten" weiterexistiert hätten?
9. 1830: Die opernhafte belgische Revolution
Nachdem die Region bis 1815 unter französischer Herrschaft gestanden hatte, fiel das Land nach der Niederlage von Napoleon bei Waterloo südlich von Brüssel an das Vereinigte Königreich der Niederlande.
Dieser auf dem Wiener Kongress neu geschaffene Staat sollte unter dem niederländischen König stark genug sein, um französischen Ansprüchen Stand halten zu können.
Dieses Königreich hieß zwar auf niederländisch Koninkrijk der Nederlanden und bezeichnete die Untertanen des Königs in dieser Sprache als Nederlanders. Auf Französisch hieß es jedoch Royaume des Belgique und die Untertanen waren Belges.
Jedoch kam es im Laufe der Jahre zu einer verstärkten Vereinigungspolitik, die auf eine Übernahme des Südens durch die Niederlande hinausliefen. Vor allem die starke Förderung der niederländischen Sprache, die staatliche Kontrolle der katholische Kirche und eine anti-liberale Gesetzgebung führten zu Widerstand von unterschiedlichen Gruppen.
Der Konflikt verschärfte sich ab 1828, als sich liberale und konservative Gruppen zu einer „Heiligen Allianz“ gegen den niederländischen König und seine Politik zusammenschlossen. Aufgrund der bisherigen ideologischen Gräben zwischen den Oppositionellen erhielt das Bündnis den Spitznamen „Monster-Verbund“.
Zwar kam der König der Opposition in der Sprachen- und Glaubenspolitik entgegen, pochte aber weiter auf einem absoluten Herrschaftsanspruch.
Daher beruhigte sich die Lage nicht.
1830 verschlechterte sich schließlich die wirtschaftliche Lage für die Unterschichten in den Städten und in der „Julirevolution“ stürzten die Franzosen ihr bisheriges Königshaus.
So kam es am 25. August 1830 nach der Aufführung der Oper „Der stumme von Portici“, die einen Volksaufstand thematisierte, zum Aufruhr in Brüssel.
Dieser führte nicht nur zu gewalttätigen Ausschreitungen. In Folge der Unruhen bildeten sich in Belgien auch Bürgermilizen, die sofort die Macht von den niederländischen Behörden übernahmen und die schwarz-gelb-roten Fahnen von Brabant hissten.
Nachdem der niederländische König und sein Militär zuerst passiv geblieben waren, scheiterte im September eine Rückeroberung von Brüssel. Im Gefolge dessen übernahmen Revolutionäre in allen belgischen Städten die Macht, während sich die niederländischen Strukturen dort schlicht auflösten oder zu den Revolutionären übergingen.
Zwar gelang es dem Land schnell eine Verfassung zu verabschieden. Doch seine Lage war nach wie vor prekär. Einzelne Großmächte wollten die Niederländer beim Niederschlagen des Aufstandes unterstützen, wurden dann aber von Unruhen in den eigenen Ländern abgehalten. Auch verfolgte Frankreich Pläne für eine Annexion von Wallonien.
So garantierte 1830 die Londoner Konferenz der europäischen Großmächte die Unabhängigkeit und Neutralität von Belgien. Mit Leopold I. (siehe Bild) gab es ab Juli 1831 den ersten „König der Belgier“.
Damit war die Unabhängigkeit aber noch nicht endgültig gesichert. Die Niederländer starteten einen neuen Feldzug, um das Land zurückzuerobern. Die erst entstehenden belgischen Streitkräfte konnten dem zuerst nichts entgegensetzen.
Erst als Frankreich auf Seiten Belgiens eingriff, endete der „Zehn-Tage-Feldzug“ mit einem Rückzug der Niederländer.
Aber erst 1839 erkannte der niederländische König die Unabhängigkeit von Belgien an.
Was wäre gewesen, wenn der Aufstand gescheitert wäre?
10. 1844: Der flämische Rechtschreibkrieg
Das neue belgische Königreich war stark von der französischen Sprache geprägt, obwohl die Verfassung keine Staatsprache festlegte. Selbst in Flandern sprach die Elite Französisch, vor allem vor Gericht und in der Verwaltung.
Die verschiedenen flämischen Dialekte galten dagegen als primitiv und Sprache der Unterschichten. Zudem waren sie so verschieden, dass sich einzelne Dialektsprechende nicht immer untereinander verstehen konnten.
Die Zeit im Vereinigten Königreich der Niederlande hatte aber unter einigen flämischsprachigen Literaten den Wunsch geschaffen, ihre Sprache aufzuwerten.
Dabei standen sich jedoch zwei Gruppierungen gegenüber. Die „Flaminganten“ wollten die flämischen Dialekte nach dem Vorbild des Niederländischen vereinheitlichen und durch die Aufwertung zur zweiten Standartsprache machen. Die „Sprach-Partikularisten“ wollten dagegen die Vielfalt der Dialekte erhalten.
Daher kam es zwischen 1839 und 1844 zum „Spellingoorlog“, dem Rechtschreibkrieg unter den Literaten. Am Ende konnten sich die Befürworter einer Vereinheitlichung durchsetzen. Damit wurde Flämisch aus einer Regionalsprache mit unterschiedlichsten Dialekten zur zweiten Einheitssprache im noch französisch geprägten Königreich Belgien.
Wie hätte sich die Zweisprachigkeit von Belgien entwickelt, wenn Flämisch eine Ansammlung von Regionaldialekten geblieben wäre?
11. 1898: Das zweisprachig-einsprachige Königreich
Nach dem „Spellingoorlog“ erhoben die „Flaminganten“ erste Forderungen an den französisch geprägten Zentralstaat. So forderten sie die Einführung des Flämischen in der Verwaltung, in Gerichtsprozessen und in weiterführenden Schulen.
Diese Forderung wiesen die französischsprachigen Eliten aber in den 1840er Jahren schroff ab. Erst nach einigen Justizskandalen und einem Erstarken der flämischen Bewegung kam es in den 1870er und 1880er Jahren zu einer Umsetzung der ersten Forderungen.
1898 verabschiedete das Parlament sogar ein Gleichheitsgesetz, das Flämisch zur gleichberechtigen Amtssprache neben Französisch machen sollte.
Dagegen wandte sich jedoch die Wallonische Bewegung, die sich als Reaktion auf die „Flaminganten“ gegründet hatte. Für sie war es unzumutbar, Flämisch im ganzen Land als dem Französischen gleichgestellt zu akzeptieren. Sie forderten stattdessen erfolgreich weiter den Vorrang des Französischen und lehnten das Erlernen der flämischen Sprache ab.
Dies führte zur Radikalisierung der Flämischen Bewegung, die sich von einer Zweisprachigkeit im gesamten Land als Ziel verabschiedete. Stattdessen propagierte sie analog zur Wallonischen Bewegung eine exklusive Stellung des Flämischen in den nördlichen und westlichen Landesteilen.
Dadurch kam es langfristig zu einem Ende der Zweisprachigkeit in allen Regionen des Landes und zur Aufteilung in zwei jeweils einsprachige Gebiete.
Wie hätte sich der belgische "Sprachenstreit" entwickelt, wenn Flämisch bereits 1898 Amtssprache geworden wäre?
12. 1914: Das wehrhafte Belgien
Als 1914 die „Julikrise“ immer mehr zum Ersten Weltkrieg eskalierte, griffen die militärischen Planungen der europäischen Großmächte.
So plante das Deutsche Reich im „Schlieffen-Plan“ zu Beginn über Belgien in Frankreich einzumarschieren und nach einem Sieg die Truppen gegen Russland einzusetzen.
Als Vorwand dienten angebliche Erkenntnisse über französische Einmarschpläne. In einem Ultimatum forderte das Deutsche Reich Durchmarschrechte und kündigte für den Fall einer Ablehnung einen Angriff ein. Das Ultimatum war auf 12 Stunden begrenzt.
Anders als von den Deutschen erwartet, entschied sich die belgische Regierung nach kurzer Diskussion zum Widerstand. Der König rief seine Armee und die Nation leidenschaftlich zum Kampf auf und riss damit die Bevölkerung mit.
Dennoch setzte die deutsche Armeeführung darauf, dass die belgische Armee kaum Widerstand leisten würde und könnte.
Eine Fehlkalkulation.
Bereits bei der Einnahme der für den „Schlieffen-Plan“ entscheidenden Festung Lüttich kam es zu längeren und heftigeren Kämpfen als erwartet. Erst der Einsatz von größeren Artilleriegeschützen brachte den Durchbruch. Auch auf dem weiteren Durchmarsch kam es immer wieder zu massiven Gefechten.
Da die deutsche Armee mit diesem Widerstand nicht gerechnet hatte und die Bevölkerung des Partisanenkriegs verdächtigte, kam es zu zahlreichen Kriegsverbrechen wie Massakern an der Zivilbevölkerung in den wallonischen Orten Dinant und Tamines. Oder zur Zerstörung der Universitätsstadt Löwen.
Am Ende gelang es der deutschen Armee nicht, ganz Belgien zu besetzen. Durch das Öffnen der Schleusen konnte die belgische Armee gemeinsam mit Briten und Franzosen die letzten Stellungen bei Nieuwpoort und Diksmuide halten.
Da die Bevölkerung den Widerstand im besetzten Land weiter mittrug, kollaborierte dort nur eine sehr kleine Minderheit der Flämischen Bewegung mit den Deutschen.
So blieb Belgien im Ersten Weltkrieg bis zum Ende aktiver Kriegsteilnehmer im Widerstand gegen die deutschen Angreifer.
Wie hätte es sich auf den Ersten Weltkrieg ausgewirkt, wenn Belgien sich nicht verteidigt hätte?
13. 1940: Die knappe Flucht der Exilregierung
Auch im Zweiten Weltkrieg überfiel das Deutsche Reich Belgien.
Anders als im vorangegangen Konflikt hielt die belgische Armee aber dem Angriff nur 18 Tage stand. Am 28. Mai 1940 erklärte König Leopold III. als Oberbefehlshaber eigenmächtig und überraschend die Kapitulation der Streitkräfte.
Damit kam es auch zum Bruch mit der belgischen Regierung unter Premierminister Hubert Pierlot von der Katholischen Partei und Außenminister Paul Henri Spaak von den Sozialisten, letzterer einer der Väter der späteren europäischen Einigung.
Denn der König weigerte sich ebenfalls, der Regierung ins Exil zu folgen und an der Seite der Alliierten, zum Beispiel mit der belgischen Kolonie Kongo, weiterzukämpfen. Stattdessen begab er sich freiwillig in die Kriegsgefangenschaft des Deutschen Reiches.
Für den eher autokratisch eingestellten Monarchen hatte eine Sicherung des belgischen Staates und der Monarchie Priorität. Durch den aus seiner Sicht unvermeidlichen deutschen Sieg war eine demokratische Ausgestaltung Belgiens für ihn nicht mehr zwangsläufig.
Premierminister Pierlot erklärte daraufhin in einer Radioansprache aus Frankreich, dass durch die Kriegsgefangenschaft des Königs dessen Befugnisse auf das Kabinett übergegangen waren.
Doch die führenden Köpfe dieses Kabinetts gerieten schnell selbst in Gefahr. Sie hielten sich so lange wie möglich in Frankreich auf. Nach dessen Kapitulation scheiterte aber ein erster Versuch von Pierlot und Spaak, ohne ein Visum über Spanien nach London zu gelangen.
Erst nach drei Tagen im Niemandsland zwischen den Grenzen konnten sie nach Spanien einreisen. Dort stellte das Franco-Regime aber Pierlot und Spaak in Barcelona unter Hausarrest, in dem sie mehrere Wochen verblieben.
Als sich Gerüchte verbreiteten, dass sich der Reichsführer-SS Heinrich Himmler in Spanien aufhalten würde, fürchteten beide eine Auslieferung.
Daher flüchteten sie mithilfe eines doppelten Bodens in einem Kleinlaster, den der belgische Botschafter organisiert hatte. Nach 15 Stunden Fahrt und einer erfolglosen Kontrolle durch spanische Grenzer erreichten sie schließlich Portugal.
Von dort aus gelangten sie nach Großbritannien und führten weiter die Exilregierung im Widerstand gegen das Dritte Reich.
Was wäre gewesen, wenn die Flucht von Pierlot und Spaak gescheitert wäre?
14. 1945: Die verhinderte Zerstörung des Genter Altars
Der Genter Altar (siehe Bild unten) gilt als ein Meisterstück der flämischen Kunst und steht für die Blütezeit der durch Tuchhandel reichen Stadt Gent. Er war eine Auftragsarbeit der Maler Hubert und Jan van Eyck für ein reiches Bürgerehepaar, die damit eine gestiftete Kapelle in der Genter Kathedrale vervollständigen wollten.
Die Geschichte des Altarbildes blieb sehr bewegt, da es zum Beispiel zwischen 1794 und 1918 über Belgien, Frankreich und Deutschland verteilt war.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges scheiterte der Versuch, das Kunstwerk vor den Deutschen in Sicherheit zu bringen. Diese brachten es in ihren Besitz und lagerten es 1944 in einer Salzmine im österreichischen Altaussee ein.
Dort wäre es fast zur Zerstörung des Genter Altars gekommen. Der dortige Gauleiter wollte die Mine sprengen lassen, um alle dort gelagerten Kunstwerke nicht in die Hände der Kriegsgegner fallen zu lassen.
Doch es gelang lokalen Verantwortlichen, die Sprengung zu verhindern und die anrückenden Alliierten zu informieren.
Diese sicherten nach der Kapitulation des Dritten Reiches die Kunstwerke und gaben den Genter Altar nach Belgien zurück, wo er noch heute in der Kathedrale ausgestellt wird.
Der Raub und die Rettung des Genter Altars waren 2014 sogar – relativ frei – Thema des Kinofilms „Monuments Men“.
15. 1950: Die umstrittene Königsfrage
Nach Kriegsende kam es in Belgien zu heftigen Auseinandersetzungen um die Rolle der Menschen während der deutschen, nationalsozialistischen Besatzungszeit.
Zwar hatte jeweils nur eine Minderheit kollaboriert oder war im Widerstand gewesen. Doch der Streit, wie vor allem mit den Kollaborateuren zu verfahren war, belastete die Nachkriegsgesellschaft.
Zudem kam es schnell zu einer Verkürzung auf den Konflikt zwischen Flandern und Wallonien, da die Flamen unter dem Verdacht standen, mehr mit den Deutschen zusammengearbeitet zu haben.
Die Auseinandersetzung drehte sich vor allem um die Rolle von König Leopold III. während seiner Kriegsgefangenschaft. Galt diese zuerst in der belgischen Bevölkerung als ein Akt der Solidarität, hatten seine Handlungen danach seine Glaubwürdigkeit untergraben.
So hatte er 1941 eine neue Frau geheiratet, womit das Bild des mit der Bevölkerung leidenden Kriegsgefangenen Schaden nahm. Zudem war seine 1935 verstorbene erste Frau sehr beliebt gewesen.
Zwar hatten ihn die Nationalsozialisten 1944 in das Deutsche Reich verschleppt. Dennoch warnte Leopold III. nach Kriegsende vor einer Besetzung Belgiens durch die Alliierten, forderte eine Entschuldigung der Exilregierung um Pierlot wegen des Bruchs mit ihm 1940 und verurteilte weder die Kriegsverbrechen der Nationalsozilisten, noch würdigte er den belgischen Widerstand.
Die belgische Regierung ernannte zuerst seinen jüngeren Bruder zum Übergangsregenten und vertagte die Frage nach einer Rückkehr Leopolds.
Während Leopold für Kommunisten und Sozialisten, die federführend im Widerstand gewesen waren, ein Symbol der Kollaboration war, befürworteten die Konservativen ein nicht bindendes Referendum über eine Rückkehr des Monarchen. Dabei wussten sie viele Belgier hinter sich, die kollaboriert oder in der Besatzungszeit eine abwartende Haltung eingenommen hatten.
1950 kam es schließlich zum Referendum mit der Frage: „Sind Sie der Meinung zugetan, dass König Leopold III. die Ausübung seiner verfassungsmäßigen Befugnisse wieder aufnehmen sollte?“
Einerseits stimmte dabei eine Mehrheit von 58 % für die Wiederaufnahme. Andererseits hatten in Brüssel nur 48 % und in Wallonien 42 % dafür gestimmt, während es in Flandern 72 % waren. Dies beförderte die regionale Spaltung, obwohl der König eigentlich ein Bindeglied des ganzen Landes sein sollte.
Nachdem die Konservativen mit absoluter Mehrheit die danach folgende Parlamentswahl gewonnen hatten, kehrte Leopold III. als König zurück.
Dies führte zur sofortigen Eskalation auf Seiten der Kommunisten und Sozialisten. Es kam zu Streiks, Demonstrationen und Krawallen, die in Lüttich sogar zu Toten führten. Die Drohungen der Linken im Parlament beförderten bei den Konservativen die Furcht vor revolutionären Verhältnissen.
Die konservative Regierung legte Leopold III. daher eine Abdankung nahe, die er aber erst vollzog, als die Regierung geschlossen mit Rückzug drohte. Nachfolger wurde sein 20jähriger Sohn Baudouin, der bis zu seinem Tod 1993 König und Integrationsfigur blieb.
Was wäre gewesen, wenn Leopold III. nicht zurückgetreten wäre?
16. 1952: Brüssel als verzögerte „Hauptstadt Europas“
Wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges gründete sich 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit den Mitgliedern Frankreich, Italien, Niederlande, Belgien, Luxemburg und Westdeutschland.
1952 sollte die Organisation die Arbeit aufnehmen. Die Auswahl des Standortes für die Institutionen verzögerte sich aber. Eine Mehrzahl der Mitglieder war zwar für Brüssel, da die Stadt zentral gelegen, von den Verkehrswegen her gut angebunden, mehrsprachig und nicht Hauptstadt eines großen Landes war.
Doch Belgien war zuerst dagegen. Denn die belgische Regierung wollte die europäischen Institutionen nach Lüttich vergeben. Einmal, weil es das Zentrum der belgischen Kohle- und Stahlindustrie war. Und zum anderen, um die Gemüter nach den Unruhen um die Königsfrage zu besänftigen.
Die anderen Länder waren jedoch dagegen und wählten zuerst Luxemburg sowie Straßburg als Standorte der Institutionen.
Erst 1957 mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) kam nochmals Bewegung in die Frage. Die neuen Institutionen wurden zuerst im halbjährigen Wechsel von jeweils einem Mitgliedsland geleitet. Und da Belgien im Alphabet zuerst kam, mietete der erste Präsident des europäischen Ministerrats, der belgische Außenminister, ein Gebäude in Brüssel an.
Damit war noch keine Einigung über den zukünftigen Sitz verbunden. Aber da es diese auch in den folgenden Jahren nicht gab, blieben die EWG-Institutionen in Brüssel und begannen weitere Gebäude anzumieten oder zu bauen.
Erst 2000 wurde Brüssel etwas offiziell Sitz der Institutionen der Europäischen Union, als die Regierungschefs beschlossen, ihre halbjährigen Konferenzen nur noch dort abzuhalten.
Wo wären die Europäischen Institutionen gelandet, wenn Brüssel sich nicht beworben hätte?
17. 1958: Die knappe Fertigstellung des Atomiums
1953 bekam die belgische Hauptstadt Brüssel den Zuschlag für die erste Weltausstellung nach dem Zweiten Weltkrieg.
Unter dem Motto „Die Arbeit der Welt – für eine menschliche Welt“ sollte die Expo als Schaufenster für Brüssel, Belgien und die Welt dienen und einen fast grenzenlosen Fortschrittsoptimismus propagieren.
Ein Herzstück der Weltausstellung stellte das Atomium (siehe Bild unten) dar, das in einer einzigartigen Architektur eine milliardenfache Vergrößerung der Elementarzelle von Eisen darstellte. Es sollte somit sowohl die Atomenergie als auch die Wissenschaft symbolisieren, die der Menschheit den Fortschritt bringen würden.
Durch die herausfordernde Struktur war der Bau des Atomiums komplettes Neuland und für die Beteiligten Unternehmen eine enorme Herausforderung. Vor allem, da die Konstruktion sowohl schnell als auch einfach ausgeführt werden sollte.
Trotz dieser Risiken gelang es den Verantwortlichen, das Atomium im März 1958 fertig zu stellen – einen Monat vor Eröffnung der Weltausstellung.
Es entwickelte sich zu einem beliebten Besuchsziel der Expo. Und blieb auch danach erhalten, obwohl zuerst ein Abriss geplant war.
Langfristig wurde es sogar zu einem der wenigen unumstrittenen Symbole für Belgien, da seine abstrakte Form weder Flamen noch Wallonen zugeordnet werden konnte.
Was wäre gewesen, wenn das Atomium nicht rechtzeitig zur Weltausstellung fertig geworden wäre?
18. 1963: Die starre Sprachgrenze
Ansonsten entwickelten sich beide Sprachgruppen häufig gegeneinander. Eine Entwicklung der bisherigen Sprachgrenzen ist dabei ausgeschlossen.
Von 1921 bis 1962 hatte es jeweils im Abstand von zehn Jahren eine Zählung gegeben, in der die Bürger angeben mussten, welche Sprache sie am meisten benutzten. Kam der Anteil einer Sprache auf 20 Prozent, später 30 Prozent, mussten bestimmte Dienste auch in dieser Sprache angeboten werden.
Die Flamen sahen sich dabei benachteiligt. So entwickelte sich Brüssel zu einer französischsprachigen Stadt, obwohl sie historisch in Flandern lag. Auch in den Umlandgemeinden der Hauptstadt steigerte sich durch den Zuzug aus Brüssel der Anteil der Französischsprachigen.
Da die Flamen diese Ausbreitung des Französischen fürchteten, die auf eine Übernahme der Hauptstadt samt Umland hinausliefen, forderten sie die Einrichtung einer festen Sprachgrenze (siehe Bild unten).
Als diese 1962/1963 politisch beschlossen wurde, fror sie die Verhältnisse quasi in diesen Jahren ein und sorgte für einen gestiegenen Anpassungsdruck innerhalb dieser Grenzen sowie zu einer Verstärkung der Zweiteilung von Belgien.
Wie hätte sich Belgien entwickelt, wenn die Sprachgrenzen auch noch 1963 alle zehn Jahre flexibel festgelegt worden wären?
Quellen und Literatur
- Bob Beelen: Antwerpen und Deutschland: Eine lange Geschichte, auf: .stadtfuehrung.be (22.04.2021).
- Christoph Driessen: Geschichte Belgiens. Die gespaltene Nation. Regensburg 2018.
- Jan von Flocken: Der erste große Sieg des Bürgers über den Ritter. Courtrai 1302, auf: welt.de (27.04.2016).
- Dieter Hoffmann: „Ich habe befohlen, die Dörfer abzubrennen“. Beginn des Ersten Weltkrieges, auf: spiegel.de (11.11.2008).
- Homepage des Atomiums mit den Artikeln EXPO 58, DIE FORM DES ATOMIUMS und DER BAU & DIE WERKSTOFFE.
- Sven-Felix Kellerhoff: Wassermassen retten das letzte bisschen Belgien. Erster Weltkrieg, auf: welt.de (28.10.2014).
- Peter Schmidt: Der Genter Altar. Brüssel 2014.
- Florian Stark: Bürgermilizen vernichteten Frankreichs arrogante Ritter. „Sporenschlacht“ 1302, auf: welt.de (15.07.2020).
- Dieter Wulf: Die Seele von Antwerpen, auf: deutschlandfunk.de (06.01.2023).
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