Im Jahr des Herrn 800 ist das christliche Abendland im Umbruch. Nicht nur steigen die Spannungen zwischen beiden römischen Reichen. Auch das Frankenreich strebt nach einem Platz jenseits des Schattens Roms. Während Kriege am Horizont immer deutlicher werden, rückt ein bisher unbekanntes Volk in das Zentrum der Ereignisse: das der Bajuwaren.

Dieser Beitrag als Alternative History Roman erschien zum ersten Mal am 15. September 2020. Er wird seitdem immer wieder überarbeitet und mit neuen Kapiteln weitergeschrieben.

  1. Der fachkundige Bootsmann
  2. Der abwesende Soldat
  3. Die barbarische Magistra
  4. Der nützliche Tote
  5. Die geübte Mörderin
  6. Der paranoide Gesandte (neu)
  7. Der lächelnde Strategos
  8. Der überraschte Offizier
  9. Der tödliche Philosoph
  10. Der tastende Träumer

1. Der fachkundige Bootsmann

Christopheros Technítis genoss den frühen Sommermorgen. Um diese Zeit war es selbst im Kontoskalion-Hafen von Konstantinopel noch ruhig. Er hatte keine Schwierigkeit, über den Pier zu schlendern und das langsam erwachende Treiben zwischen den Schiffen zu beobachten.

In der Hauptstadt des Oströmischen Reiches kreuzten sich viele Handelswege und Völker. Sein ungewöhnlich blondes Haar war nur ein Beweis unter vielen.

Solange sein Kunde nicht auftauchte, genoss Christopheros lieber, wie die aufgehende Sonne langsam die Kuppel der Hagia Sophia und die Dächer des Kaiserpalastes zum Leuchten brachte. Immer wieder ein erhabener Anblick.

Hier zu leben war selbst für Leute wie ihn ab und an ein Privileg. Auch wenn die Rhomäer nicht mehr wie vor Jahrhunderten das Mittelmeer alleine beherrschten, gehörte ihr Reich doch zu den Großmächten der bekannten Welt.

Karte von Konstantinopel mit der Aufteilung der Stadt in der byzantinischen Zeit.
Karte von Konstantinopel während der oströmisch-byzantinischen Zeit.
Der Kontoskalion-Hafen befand sich an der Südküste
zwischen den anderen beiden Häfen.
(Wikimedia Autor: Furfur & Cplakidas/CC BY-SA 3.0)

Er blickte auf seine Hände. Er war nun schon weit in seinen Dreißigern. Aber sein Körper war durch seine harte Arbeit immer noch so durchtrainiert, dass sogar junge Frauen erröteten, wenn er sie ansprach.

Das Leben hatte es bisher gut gemeint mit ihm. Und es würde noch besser werden, wenn er seine heutige Arbeit erledigt hätte.

Es klang einfach: Einen Passagier zu einem Schiff rudern, das bereits vor einer Stunde langsam den Hafen verlassen hatte und nun letzte Vorbereitungen traf, draußen die Segel zu setzen.

Niemand war besser darin, im langsam erwachenden Irrsinn, der normalerweise den Hafen prägte, die schnellste Route zu den Segelschiffen am Bosporus zu finden. Und niemand war schweigsamer.

Das war in diesem Falle die wichtigere Eigenschaft, fand Christopheros. Zu überstürzt erschien ihm sein Auftraggeber von Anfang an.

Als Sohn eines Fischers hatte er auch bemerkt, wie hastig das Schiff den Hafen noch bei Dunkelheit verlassen hatte.

Auch wenn sie versucht hatten, ihren Hintergrund zu verbergen, war er sich sicher: Wie solche Dilettanten konnten nur die Halb-Barbaren aus dem westlichen Rom arbeiten. Jeder niedrige byzantinische Beamte hätte sich neben solchen Amateuren geschämt.

Er hatte, wie immer, nicht nachgefragt. Er wusste, was auf dem Spiel stand, schon allein aufgrund der Bezahlung, die seine Auftraggeber nach einer viel zu kurzen Verhandlung herausgerückt hatten.

Und jeder in Konstantinopel wusste, dass es um das Verhältnis zwischen den beiden Imperien nicht zum Besten stand. Nicht, seitdem Kaiserin Irene ihren Sohn geblendet und die Regierung wieder übernommen hatte.

Manchmal fragte er sich, was gewesen wäre, wenn Kaiser Justinian vor über 300 Jahren sich nicht entschlossen hätte, einen seiner verdienstvollsten Generäle zum neuen Kaiser im Westen des Imperiums zu ernennen.

Ob es dann nur ein Römisches Reich geben würde, das geeint viel besser gegen die einfallenden Muslime bestanden hätte? Vielleicht wäre dann das Imperium im Osten nicht auf seine Provinzen in Griechenland und Kleinasien geschrumpft. Im Westen klammerten sich die neuen Kaiser sowieso nur auf die Überreste ihres Reiches in Italien und an der Grenze zu Ostrom.

Christopheros bemerkte seinen Klienten sofort. Der Kleidung nach zu urteilen eine hochgestellte Persönlichkeit, die so tat, als hätte sie sich als einfacher Hafenarbeiter verkleidet. Also wirklich die Halb-Barbaren.

So offensichtlich in seinem Versuch, die Eile und Nervosität zu verbergen.

Umso ruhiger blieb Christopheros und winkte ihm erst, als sich ihre Blicke trafen. Bevor der Klient im Boot überhaupt Halt gefunden hatte, hatte er es bereits losgemacht und den ersten Ruderschlag getan.

Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es besser war, wenn er sich noch schneller bewegte als sonst.

Er sollte recht behalten: Aus reinem Instinkt heraus ging er in Deckung, als er ein sehr vertrautes Zischen in der Luft hörte.

Sein Klient, nervös, stolpernd auf dem schwankenden Boot, war nicht so schlau gewesen.

Das sagte ihm der Schrei sofort.

2. Der abwesende Soldat

Um Präfekt Maurikius Vulneratus war die Hölle los. Männer schrien um ihn herum, als das massive Wildschwein kreischend auf ihn zukam.

Die Sauhatz galt nicht umsonst als Mutprobe für die Edlen dieses Landes.

Zuerst war es auch gut gegangen: Die Männer hatten das Tier in den Sümpfen aufgespürt und aufgescheucht, als es sich arglos an einem Baum gerieben hatte.

Doch die Überraschung war vergangen und der angegriffene Keiler ging zum Angriff über.

Aber Maurikius sah den nahenden Tod nicht.

Stattdessen waren die Bilder wieder da.

Er war ein komplett grüner Rekrut gewesen.

Nur hatte er das nicht gewusst.

Er wusste es erst bei seiner ersten Schlacht auf einem namenlosen Feld in Pannonien.

Eine Welle an Reitern kam plötzlich schreiend auf ihn zu.

Automatisch tastete er mit seinem linken Arm. Aber er fand es nicht.

Anstatt zu kämpfen oder wenigstens wegzulaufen, erstarrt er wie ein Stein.

Die Awaren kamen immer näher. Er sah schon das Blitzen ihrer Schwerter und seine starren Augen erkannten sogar die Sehnen ihrer gefürchteten Bögen.

Immer noch tastete trotz des gelähmten restlichen Körpers sein linker Arm. Aber er fand es nicht.

Er hätte hier schon sterben sollen.

Bilder von römischen Soldaten in der Spätantike
Soldaten der römischen Armee in der Spätantike.
(Sammy33/Shutterstock)

Der Keiler holte ihn mit einem markerschütternden Schrei zurück.

Dann übernahm wieder der Römer in ihm das Kommando und seine Reflexe aus einem Leben voller Kämpfe retten ihn das Leben.

Instinktiv sprang er zur Seite und entkam so den 200 Kilogramm, die an ihm vorbeirasten. Nun voll in seinem Element hielt er trotz der schnellen Bewegung die Balance und stieß in einer fließenden Bewegung mit seiner Lanze nach dem Wildschwein, bevor es wendete.

Als er danach wieder komplett bei Sinnen war, lag der Eber schon im Sterben. Die Jagd war erfolgreich beendet.

Er streifte routiniert die letzten Reste der Verwirrung ab, als die restlichen Männer schnell näherkamen. Einer der örtlichen Adeligen klopfte ihm anerkennend auf die Schulter:

„Ihr Römer versteht etwas von der Jagd. Das schafft nicht jeder.“

Ihm war bewusst, dass dies ein großes Kompliment gegenüber einem Landesfremden war. Doch er verkniff sich jeden Eindruck des Triumpfes. Es wäre ungehörig gewesen, sich gegenüber den Einheimischen beim ersten Zusammentreffen so zu gebärden. Und es hätte gegen die römische Tugend der Pietas, dem Respekt für die natürliche soziale Ordnung, verstoßen.

Vulneratus lag richtig: Während seine Männer zuerst jubelten, wechselten die Einheimischen schweigend Blicke.

Er war als Angehöriger des Ritterstandes zwar in erster Linie Soldat, aber er hatte sich über seinen Auftrag, wie es die Tugend der Prudentia verlange, informiert. Diese Gesandtschaft würde ankommen. Daher schwieg er ebenso, bis auch seine Männer verstummten.

Das Volk in diesen Landen war zwar barbarisch, aber im Moment ein Verbündeter Roms. Daher erlaubte er den Männern kurz dem ältesten Sohn des Herzogs zu gedenken, der eine solche Hatz vor kurzem nicht überlebt hatte.

Ein seltsames Volk, das hier zwischen der Zivilisation Roms und den fast unbewohnten Wäldern Germaniens hauste.

Weder Vulneratus noch sie selbst schienen zu wissen, woher sie ursprünglich gekommen waren und warum sie auf einmal in den ehemaligen römischen Provinzen Rätien und Pannonien aufgetaucht waren, als Rom wieder seine Fühler gen Norden ausgestreckt hatte.

Vulneratus hoffte, bald mehr über diese Leute herauszubekommen.

Verbündete hin oder her. Wenn die Bajuwaren seinem Auftrag in die Quere kamen, würde er als Römer und Soldat handeln, wie er es immer gemäß seiner Pflicht getan hatte.

Dennoch war er froh, wenn sie diese Sumpflandschaft am nächsten Tag hinter sich lassen würden. Die lokalen Führer versicherten, dass sie bald bei einer Furt an einem Kloster den Fluss passieren und wieder in angenehmere Gegenden kämen, wo sie ihre Pferde besser nutzen konnten.

Angenehmere Gegenden. Vulneratus schnaubte innerlich weniger wegen der Anstrengung, als über diese Einschätzung.

Sein Trupp bestand aus unterschiedlichen Mitgliedern mit unterschiedlichen Vorstellungen von Annehmlichkeiten.

Während die Soldaten ihre Unterkunft in einem Gehöft namens Kisoing als quasi luxuriös empfanden, beschwerten sich die Gesandten ständig. Die Handwerker und Händler waren sowieso nur an ihren eigenen Geschäften interessiert.

Immerhin reichten die weiteren Gehöfte, die sich hier an einem Bachlauf entlang zogen, aus, um die vielen Menschen so weit zu versorgen, dass sie sich einmal der Tradition der Sauhatz hingeben konnten.

Vulneratus wusste, dass diese Region einmal römisch gewesen war. Die Bajuwaren behaupteten, dass sie zum Beispiel die alten Straßen noch nutzten. Doch er hatte bisher zu seinem Kummer kaum Spuren seiner Zivilisation gefunden. Vielleicht würde er fündig werden, wenn sie die herzogliche Pfalz in einem Ort namens „Ascheim“ erreichten.

Noch mehr besorgten ihn aber die Leute, die er zu beschützen hatte. Er hatte erfahren, dass die jährliche Gesandtschaft schon vor dem Winter aufgebrochen war, um den nächsten gemeinsamen Feldzug gegen die Awaren zu planen. Warum also in großer Eile eine neue hinterherschicken?

Vulneratus schaltete diese Gedanken routiniert aus, als sich die Gruppe aus römischen und bajuwarischen Jägern dem provisorischen Lager näherte, das seine Männer aufgeschlagen hatten.

Er hörte schon das Wiehern der vielen Pferde. Seine eigenen Soldaten waren stolz auf ihren Status als Cataphractii, die als schwer gepanzerte Kavallerie die Elite des römischen Heeres im Westen darstellten.

Doch auch die Bajuwaren hatten eine Vorliebe für die Pferdezucht. Daraus hatte sich zumindest zwischen zwei Gruppen ein Gesprächsthema jenseits der diplomatischen Etikette ergeben.

Aber bisher auch nur bei diesen Pferdenarren. Vulneratus setzte daher wieder die Maske des Befehlshabers der Wachtruppe auf, als sie das Lager betraten.

Erst recht als er dem Gesandten begegnete. Dieses Mal schaffte er es sogar beim Grüßen, dessen entstellende Narbe auf der rechten Kopfseite zu ignorieren.

Der Gruppe um die bajuwarische Magistra wich er lieber von vorneherein aus.

3. Die barbarische Magistra

Pilitrud von den Anniona sah die Stadt nicht zum ersten Mal. Doch zum ersten Mal fiel ihr auf, wie klein sie war.

Ratisbona. Oder wie es ihre römischen Begleiter stoisch nannten: Castra Regina.

In jedem Fall der Hauptsitz des Herzogs der Bajuwaren.

Sie erkannte nun die Einteilung der Stadt, die ihr in einem anderen Leben verborgen geblieben war. In der Mitte noch gut sichtbar das Quadrat des ehemaligen römischen Lagers. Davor breitete sich immer mehr eine neue Siedlung aus, die schon fast zu einer eigenen Vorstadt herangewachsen war.

Hatten die Jahre im alten Rom also doch etwas gebracht.

Als Mitglied der Anniona gehörte sie zum Hochadel der Bajuwaren. Ihre golddurchwirkte und teuer gefärbte Kleidung zeigte dies nach außen deutlich.

Doch für die Römer war sie aber nichts anderes als eine der ungewaschenen Barbaren, die eine Schwächephase des Imperiums genutzt hatten.

Sie erinnerte sich noch genau an jenen Tag kurz vor ihrem Aufbruch. Auch, wenn es Jahre her war.

Als ihre Sippe am ersten warmen Frühjahrstag die Leichen ihrer Brüder herausgeholt hatte, um sie endlich im aufgetauten Boden zu beerdigen. Sie waren gemeinsam gestorben und wurden gemeinsam in die Ewigkeit gehen, wie es bei solchen Anlässen Tradition war.

Unbewusst griff sie nach dem Elbenpfeil aus Bronze. Solche Amulette sollten vor Krankheit und Bösem schützen.

Doch sie hatten ihren Brüdern in der Fehde nichts genutzt, die fast ihre Familie ausgelöscht hatte.

Sie war gerade erst in das heiratsfähige Alter gekommen. Daher schickte sie ihr Vater nach Italien.

Um einen Mann zu heiraten, der schon auf dem Sterbebett lag, als sie gerade die Alpen überquerte.

Aber auch, um dem möglichen Untergang ihrer Sippe zu entgehen.

Doch die wenigen Jahre in Italia hatten sich gelohnt.

Als Mitglied des Adels der Bajuwaren war sie zwar vor die Verhältnisse ihres Stammes gebildet, konnte auf die Beizjagd gehen, Brettspiele spielen und die Heldensagen der Vergangenheit auf der Leier spielen.

Doch ungebunden und mit einem Geschlechternamen versehen, der bei vielen Römern die Illusion von zivilisierten Vorfahren weckte, hatte sie sich das wiedererstandene Imperium genauer ansehen können als manch anderer Barbar.

Sie hatte viel gelernt. Und sie war entschlossen, dieses Wissen zu nutzen.

Ganz bewusst fasste sie sich an die Spatha, die an ihrem Gürtel hing. Das zweischneidige Langschwert war eines der besten Schmiedestücke, das ihr Volk hervorbringen konnte. Es hatte sie nach Italia begleitet und ebenfalls nun bei ihrer Rückkehr.

Illustration des Schwerttyps Spatha
War bei Römern und Germanen in der Spätantike eine beliebte Waffe: die Spatha.
(Attila N/Shutterstock)

Denn bei den Blutfehden der Bajuwaren waren auch die Frauen bewaffnet.

4. Der nützliche Tote

Maurikius Vulneratus bemühte sich, nicht abzudriften, während der Gesandte Roms und der junge Mann auf dem schlichten Thron langatmige diplomatische Höflichkeiten austauschten.

Wie immer forderte ihn bei diesen Anlässen die Tugend der Gravitas, den Ernst für das Gewicht einer Sache, besonders. Doch als Römer galt es, auch solche Herausforderungen zu bestehen.

Insbesondere, da sich seine Instinkte meldeten: Irgendetwas stimmte nicht.

Es beobachtete zuerst seine Männer, die in voller Rüstung angetreten waren und bisher wie von ihnen verlangt diszipliniert ihre Formation hielten, auch wenn dieses lange Strammstehen für sie mehr Anstrengung bedeutete, als so manche Kampfübung. Sie zeigten den Barbaren klar, dass die Krieger einer römischen Legion auf einem anderen Niveau waren als die Bauernsoldaten der Barbaren.

Auch sie wirkten nervös. Das konnte jedoch auch daran liegen, dass die meisten von ihnen noch nie einem solchen Anlass beigewohnt hatten.

Sein Blick wanderte zu den bajuwarischen Würdenträgern, die mit ihren bunten Gewändern und den Händen an den Schwertern vergeblich versuchten, mit dem Glanz des Imperiums mitzuhalten.

Ihm fiel sofort auf, dass er im Gegensatz zu seinen Männern dort viele Alte und ein paar wenige Junge sah.

Das war nicht verwunderlich. Waren doch von den Edlen am Hof des Herzogs die meisten im wehrfähigen Alter ihrem Herren auf den Feldzug gefolgt.

Erst als er die Gesichter näher musterte, fand er dort die gleiche Anspannung, die er auch bei sich bemerkt hatte. Selbst bei den erfahrenen Adeligen, die schon hunderte solcher Zeremonien erlebt haben mussten.

Was versetzte also selbst diese Veteranen in solch eine nervöse Stimmung?

Doch bevor er diesem Gedanken weiterfolgen konnte, endete die auf Latein geführte Einführung des Gesandten und die Menge am Königshof begann sich aufzulösen.

Vulneratus vermied es wie immer, dem Gesandten ins Gesicht zu blicken, spürte aber dessen Blick. Er blieb an seinem Platz, bis dieser vor ihm stand.

„Ihr werdet Georg von den Hahilinga die letzte Ehre erweisen. Von Krieger zu Krieger.“

Als hätte er gespürt, wie unangenehm seine Anwesenheit für ihn war, entfernte sich der Gesandte sofort wieder.

Und ließ ihn mit der Erkenntnis zurück, dass er pflichtvergessen dem Empfang nicht genug gefolgt war und daher nicht wusste, wer „Georg von den Hahilinga“ war und wo er ihm die letzte Ehre zu erweisen hatte.

Er trat aus dem Turm heraus, der einen Eckpfeiler des Herzogshofs bildete und entließ seine Männer in ihre Quartiere. Als Offizier musste er darauf achten, dass sie sich von der anstrengenden Zeremonie erholen konnten.

Nun stand er auf einem kleinen Marktplatz und sah sich um. Er glaubte, vor sich eine kleine Kirche zu sehen und er erkannte natürlich neben dem Herzogshof die wuchtige Gestalt der Basilika der Stadt.

Bevor er seine Orientierungslosigkeit in dieser Stadt der Barbaren auf römischem Fundament weiter wachsen konnte, hörte er, wie jemand ein paar Worte auf Bajuwarisch an ihn richtete.

Vulneratus musste immer noch abwesend gewirkt haben, denn erst jetzt bemerkte er den bajuwarischen Krieger vor sich.

Dieser versuchte es nun in einem durchaus passablen Latein.

„Verzeiht Herr, wolltet Ihr nicht auch Georg von den Hahilinga die letzte Ehre erweisen?“

Vulneratus schüttelte schnell die Verwirrung ab und folgte dem Krieger mit einem Nicken.

Zu seinem Glück war der Weg nicht weit und betraten am anderen Ende der Basilika in einer abzweigenden Straße ein unscheinbares Gebäude, in dem sich eine kleine Kapelle befand.

Dort lag ein alter Mann auf einer Bank vor dem Altar. Er wirkte noch recht kräftig, was durch das Schwert in seinen gefalteten Händen verstärkt wurde.

Vulneratus schwieg und unterdrückte einen Anfall von Schauder ob des Toten. Er stand stramm und tat so, als wäre er in ein Gebet versunken.

Auch der bajuwarische Krieger schwieg. Er wirkte zwar nicht mehr ganz jung, aber durchaus muskulös. Auf dem Schlachtfeld wäre er ein ernstzunehmender Gegner.

Als ob er den Blick bemerkt hätte, begann dieser zu sprechen:

„Georg von den Hahilinga war ein großer Krieger. Er hatte seine beste Zeit zwar schon hinter sich. Aber der Herzog schätzte seinen Rat.“

Pflichtschuldig nickte Vulneratus und nutzte die Chance, seinen Blick endgültig vom Toten zu lösen.

„Seine Erfahrung wird Ratisbona fehlen. Jetzt, wo uns so viele alte Krieger verlassen haben.“

Seine Instinkte meldeten sich sofort. Zwar starben viele Alte im Winter. Doch nur wenige, die noch so gesund wirkten wie Georg von den Hahilinga.

Der Bajuware musste Vulneratus fragenden Blick bemerkt haben, denn er fuhr fort.

„Ihr wisst es nicht? In den letzten Wochen starben auch Theodo von den Drozza und Grifo von den Fagana. Bald jede Woche trauert der Herzogshof um einen der Satrapes.“

Vulneratus wusste, dass mit den Satrapes die Edlen des Landes gemeint waren. Zumindest hatte er nun die Lösung für die Anspannung bei den Bajuwaren.

„Wir sollten nun gehen, Herr, nicht, dass wir auch bald dort liegen. Ich möchte nicht am Abend zu Bett gehen und am nächsten Morgen mit Schaum vor dem Mund sterben.“

Vulneratus stutzte: „Was meint ihr damit?“

„Nun. Alle drei waren zwar alt, aber hatten aber den Winter gut überstanden. Doch im Frühjahr starben sie, als ginge ein böser Geist in Ratisbona um.“

Der Krieger griff zu einem Amulett am Hals und Vulneratus schauderte.

„Oder was meint ihr?“

Vulneratus war zwar ein Diplomat, wusste aber, dass es für die Gesandtschaft ungünstig war, sich über den Aberglauben der Barbaren lustig zu machen.

In Rom wäre in jedem Fall nach anderen Ursachen als Geistern gefragt worden.

„Ich wünsche Euch, dass das nicht der Fall ist und wir alle noch lange zu leben haben.“

Der Bajuware nickte dankbar.

Vulneratus wollte so schnell wie möglich das Thema und vor allem den Ort wechseln. Also ging er Richtung Ausgang und registrierte dankbar, dass ihm der Krieger folgte.

„Wo habt ihr so gut Latein gelernt?“

Der Bajuware grinste.

„Die Priester haben es mir ab und an mit dem Stock beigebracht.“

„Es scheint Euch nicht geschadet zu haben. Wie ist Euer Name?“

Vulneratus schien es, als werde das Grinsen für einen Moment noch breiter.

„Ihr könnt mich Christopherus nennen.“

Vulneratus schien der Name fast etwas zu unwahrscheinlich für einen Barbaren. Doch bevor er das Gespräch vertiefen konnte, schlugen seine Instinkte erneut an.

Er bemerkte, wie vom Herzogshof mehrere Menschen über die Straßen eilten. Einer davon, ein Krieger, aus Sicht von Vulneratus noch ein halbes Kind, wurde von Christopherus angehalten.

Er sprach zu schnell für ihn. Vulneratus wünschte sich kurz, er hätte mit ihr doch etwas mehr Zeit verbracht, um die Sprache dieses Landes zu lernen.

Dann wandte sich Christopherus wieder mit entsetztem Gesicht an ihn.

„Es scheint, als wäre tatsächlich ein böser Geist in der Stadt.“

Die Hand um sein Amulett war verkrampft.

5. Die geübte Mörderin

Während sich die Gesandtschaft bei einem der zahlreichen Söhne des Herzogs vorstellte, bemühte sich Pilitrud von den Anniona, möglichst unauffällig den Torbogen eines Innenhofs zu beobachten.

Erst als sie sicher war, dass dort kein Gesinde arbeitete, zog sie den Mantel noch mehr ins Gesicht und betrat den Hof.

Sie wartete kurz, ob jemand sie ansprach.

Als das nicht der Fall war, nahm sie eine Holztreppe, die in den ersten Stock des Hauses führte. Sie machte bewusst Lärm, um nicht das Misstrauen des Bewohners zu erwecken.

Foto einer Holztreppe an einer weißen Wand.
(Eigenes Bild)

Wie erwartet, musste sie nicht einmal klopfen.

Die Tür öffnete sich bereits, bevor sie die Treppe ganz genommen hatte.

Ein Mann in den Vierzigern trat ihr entgegen. Ihr fiel auf, dass er den rechten Fuß etwas nachzog. In seinem Gürtel lag eine Spatha, auf die er demonstrativ seine linke Hand gelegt hatte.

Erst als sie den Mantel zurückschlug und ihr Gesicht enthüllte, schien er sich ein bisschen zu entspannen.

Sie atmete ebenfalls aus und sprach die Sätze, die sie seit Stunden im Kopf wiederholt hatte:

„Ich bringe ein Geschenk für Adabald von den Huosi. Die Gesandtschaft Roms fand Euch nicht am Herzogshof und schickte mich daher, es zu überbringen.“

Möglichst langsam löste sie die Schnüre um das eingewickelte Schwert an ihrem Rücken. Ebenso langsam nahm sie es in beide Hände und präsentierte es.

Wie sie es erhofft hatte, entspannte sich der Mann erneut etwas.

„Kommt herein.“

Er ließ sie nicht aus den Augen als sie die Kammer betrat. Immerhin hatte er den Arm vom Schwert gelöst.

„Zeigt es mir.“

Erneut machte sie möglichst langsame Bewegungen und hoffte, er würde ihr dies sogar noch als Unsicherheit oder Ungeschicklichkeit auslegen.

Sie wickelte die Spatha aus dem Leder und folgte dabei seinem Blick. Noch behielt er vor allem ihre Schulter im Auge. Einem erfahrenen Krieger, wie es Adabald von den Huosi zweifelsfrei war, würde so keine verdächtige Bewegung entgehen.

Das hatte sie befürchtet.

Als sie das ausgewickelte Schwert erneut in beide Hände nahm und sich bei der Präsentation leicht verbeugte, lüftete sich wie zufällig ihr Mantel etwas.

Für einen kurzen Moment wanderte der Blick des alten Mannes direkt auf ihr entblößtes Dekolleté.

Darauf hatte sie gewartet.

In einer fließenden Bewegung trat sie nach vorne, zog mit der linken Hand die Schwertscheide weg und mit der rechten das Schwert über den Kopf.

Bevor der überraschte Adalbert seine Hand an seiner Waffe hatte, hatte sie auch die linke Hand an ihrem Schwertgriff.

Die monatelangen Übungen mit ihm hatte sich gelohnt.

Ohne nachzudenken, spürte sie schon den Sog ihrer Hände, die die Spatha wieder nach unten rissen.

Adalbert hatte seine Hand gerade erst am Schwert, als sie ihn direkt am Kopf traf. Sie hörte ein Knacken und ein Grunzen. Er taumelte nach hinten,

Wie er es ihr beigebracht hatte, hielt sie die Spannung ihres Körpers aufrecht, nahm das Schwert nochmals hinter ihren Kopf und schlug nochmals mit voller Wucht zu.

Er hatte im Training immer wieder erklärt, dass es beim Schwertkampf nicht auf Kraft, sondern auf eine möglichst gute Technik ankam, um viel Wucht in den Schlag zu bekommen.

Er hatte recht behalten, bemerkte sie, als Adalbert mit einem Stöhnen zusammenbrach.

Auch jetzt war der Kampf nicht vorbei. Sie wechselte schnell den Handgriff um das Schwert und rammte es Adalbert direkt in die Kehle.

Er zuckte nur noch kurz und Blut begann sich auf dem Boden zu verteilen.

Sie hatte das in den letzten Stunden immer wieder durchgespielt und wie mechanisch wischte sie das Blut von ihrem Schwert. Sie prüfte, ob an ihrem Mantel und Kleid eventuell Blut klebte.

Als sie das erledigt hatte, wickelte sie die Spatha wieder ein, befestigte sie unter ihrem Mantel und begab sich zur Tür.

Nur einen kurzen Moment gönnte sie sich.

Mit einem Lächeln blickte sie noch einmal auf den Leichnam, bevor sie möglichst leise die Tür schloss.

Sie holte nochmals tief Luft und lief dann, wie wenn sie auf einem Spaziergang wäre, aus dem Innenhof.

Das erste Mal war gelungen.

6. Der paranoide Gesandte (neu)

„Meine Männer sollen was?“ Maurikius Vulneratus wusste nicht, ob er sich nun in der Tugend der Severitas, der Selbstkontrolle, oder der Honestas, der Ehrlichkeit üben sollte. Vielleicht wäre auch die Comitas die richtige Tugend, auch wenn ihm gerade nicht nach Humor zu Mute war.

Der Gesandte blickte ihn ohne besondere Regung an, wobei die Gesichtsnarbe umso deutlicher hervorstach.

„Eure Männer sollen die Füße stillhalten. Nichts soll die Barbaren provozieren.“ Der Gesandte sprach etwas langsamer, als wäre Vulneratus kein Präfekt, sondern ein frisch eingezogener Fußsoldat.

Vulneratus blickte kurz um sich. Sie befanden sich etwas außerhalb der Mauern von Castra Regina und hatten sogar die wenigen Hütten hinter sich gelassen, die sich westlich der Stadt entlang des Flusses zogen, den die Römer einst Danuvius getauft hatten.

Die zwei Soldaten der Cataphractii, die ihnen ohne ihre gewohnten Pferde missmutig als Eskorte folgten, wahrten einen angemessenen Abstand.

Als er sicher war, dass keiner seine Worte hören würde, entschloss er sich, zumindest die Auctoritas, das Wissen um den sozialen Status, etwas beiseite zu schieben.

„Mit Verlaub, Legatus, aber das wird nicht funktionieren.“

Der Gesandte ließ sich zumindest vorerst zu keiner Reaktion auf diese Insubordination herab, weshalb Vulneratus sich nochmals umblickte und kurz überlegte, bevor er fortfuhr.

„Soldaten ohne Beschäftigung haben schon Kaiser gestürzt.“

„Wollt Ihr mir drohen, Präfekt?“ Der Gesandte war stehengeblieben und blickte den Präfekten wieder direkt an. Immerhin hatte Vulneratus nun seine ganze Aufmerksamkeit.

„Das wäre mir nie in den Sinn gekommen, Legatus.“

Vulneratus wartete kurz ab, bis sich das aufgeschreckte Ego des Gesandten wieder etwas beruhigt hatte.

„Fahrt fort.“ Der Gesandte setzte sich in Bewegung, schien nun aber seine Umgebung und ihre Eskorte etwas genauer zu mustern.

„Unsere Soldaten sind es gewohnt, immer etwas zu tun, selbst wenn es nur marschieren ist. Sobald sie sich davon erholt haben, brauchen sie eine neue Beschäftigung. Ansonsten haben wir hier harte Veteranen, die es gewohnt sind, jeden Augenblick zu töten, und die zu viel Zeit zum Nachdenken haben.“

Wieder schien der Gesandte kurz zu ihrer Eskorte zu blicken, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Vulneratus richtete.

„Ihr könnt Eure Männer hier nicht üben oder marschieren lassen, Präfekt. Das würden die Barbaren schon in ruhigen Zeiten als Provokation empfinden. Die Zeiten in Castra Regina sind aber nicht ruhig.“ Er schien kurz zu überlegen, bevor er fortfuhr. „Und zum Töten werdet ihr auch wenig Gelegenheit hier finden.“ Wieder schien er mit Absicht eine kurze Pause zu machen. „Außer ihr werdet zu Mördern. Aber davon hat Castra Regina anscheinend schon genug.“

Vulneratus erwiderte den Blick.

„Legatus, ich fürchte nur, dass wir zu viele Männer haben, nur um die Gesandtschaft zu bewachen. Die Männer brauchen noch andere Aufgaben.“

Der Gesandte schien über diese Antwort überrascht.

„Eure Männer brauchen andere Aufgaben?“

„Ja, Legatus. Wenn die Bajuwaren mit ihnen üben wollen, konnte das beiden Seiten…“

Der Gesandte wirkte nun sogar amüsiert.

„Ihr glaubt wirklich, dass sich die Nachfahren von Noah und Herkules sich von irgendwelchen Römern erklären lassen wollen, wie sie die Spatha zu führen haben?“

Vulneratus stockte kurz. Der Stolz der Barbaren war ihm nicht in den Sinn gekommen.

Doch etwas in der Antwort des Gesandten hatte in ihm eine Idee geweckt. Nachdenklich blickte er auf den weit verzweigten Fluss, der sich träge Richtung Castra Regina bewegte. Immerhin waren hier die Flussufer soweit abgeholzt, dass die Landschaft gut zu überblicken war. Bei seinen Nachforschungen hatte er geglaubt, die Bajuwaren hätten das ehemalige römische Kulturland gänzlich dem germanischen Urwald überlassen.

Da kam ihm die Idee.

„Legatus, ihr sagtet, die Bajuwaren sehen sich als Nachfahren Noahs?“

Erneut wirkte der Gesandte überrascht.

„Ja, zumindest ihre Edlen scheinen das zu glauben.“

„Dann werden wir den Nachfahren Noahs ein Schiff bauen.“ Als er den entgeisterten Blick des Gesandten sah, fügte Vulneratus noch hinzu: „Mit Eurer Erlaubnis, Legatus, schenken wir ihnen als Dank für ihre Gastfreundschaft ein Schiff, mit dem sie den Danuvius wie einst die Legionäre befahren können.

Für einen kurzen Moment hatte er den Eindruck, der Gesandte stand kurz vor der Ohnmacht. Dann schien dieser verstanden und sich wieder gefangen zu haben.

„Macht, wie ihr es für richtig haltet, Präfekt. Solange ihr die Ressourcen und das Leben der Gesandtschaft verschont“ – Vulneratus hatte den Eindruck, er betonte das Letztere besonderes – „könnt ihr Eure Männer beschäftigen, wie ihr wollt.“

Danach drehte er auf dem Absatz um und lief so schnell nach Castra Regina zurück, dass Vulneratus kaum folgen konnte. Der Gesandte umkurvte die beiden überraschten Soldaten der Eskorte und fixierte mit seinen Augen statt Vulneratus das wieder näherkommende Stadttor.

„Wie ihr befehlt, Legatus“, brachte Vulneratus noch hervor, bevor er mit den beiden Soldaten weiter folgte.

Er begann bereits darüber nachzudenken, ob sie eventuell Kontakte in die Stadt hatte, um die notwendigen Ressourcen zu besorgen. Oder der bajuwarische Hof Interesse an einem solchen Boot hatte, um seine angebliche Herkunft zu demonstrieren.

Da fiel ihm das nach wie vor seltsame Verhalten des Gesandten auf. Dieser sagte kein Wort mehr und vermied es komplett, zu ihm oder den Soldaten zu blicken.

Vulneratus war kurz verwundert, als ihm das Undenkbare als Antwort kam. Eine Antwort, die unvereinbar mit seinem Ehrenkodex als Offizier und Römer war.

Innerlich stöhnte er auf. Neben gelangweilten Soldaten, die bald eine ungeliebte Aufgabe zu erfüllen hatten, musste er sich nun auch noch mit einem paranoiden Gesandten herumschlagen.

7. Der lächelnde Strategos

Manuel Palaiogolos beobachtete distanziert den Rauch, der sich langsam über das Flusstal legte. Die einzigen Schreie, die er noch leise hier oben hörte, wenn der Wind günstig wehte, stammte von den plündernden Soldaten.

Er seufzte und rief sich noch einmal die Wichtigkeit seiner Aufträge ins Gedächtnis. Anders ließ sich seine derzeitige Situation auch nicht länger aushalten.

Zwar genoss er durch sein kleines Gefolge zumindest einige Annehmlichkeiten der Zivilisation. Aber nach Monaten in diesen barbarischen Landen war seine Geduld langsam aufgebracht.

Trotzdem gelang es ihm, wieder die freundliche Maske des Diplomaten aufzusetzen, als er die näherkommenden Pferde hörte.

Eine Horde dieser barbarischen Krieger kam näher und seine Bewacher legten instinktiv die Hände an ihre Bögen.

Mit einer Handbewegung brachte er beide Gruppen zum Stehen.

„Mein Freund, Graf Ladulf, was habt ihr Gutes zu berichten?“ Er bemühte sich, nicht allzu künstlich zu lächeln.

„Mein Freund, Manuel von den Rhomäern, wir haben die Dörfer eingenommen. Niemand ist entkommen. Ich habe 50 Mann bereits ausgesandt, um das nächste Dorf… einzunehmen.“

Manuel atmete innerlich aus. Auch wenn Ladulf seinen eigentlichen Nachnamen nicht einmal ansatzweise korrekt aussprechen konnte, war er im Unterschied zu den meisten Barbaren einigermaßen kompetent.

„Das freut mich sehr. Ich hatte schon befürchtet, die Plünderungen und Brände hätten zu viel Aufmerksamkeit erregt.“

Er bemerkte, wie das Gesicht des Grafen kurz rot anlief. Aber auch er hatte sich noch gut genug unter Kontrolle.

Bevor die Situation unangenehm wurde, fuhr Manuel fort:

„Eure Männer haben sich bewährt. Es sei ihnen vergönnt, sich noch etwas auszutoben. Ich schicke den Euren noch 20 meiner besten Männer mit, damit sie eventuelle Schwierigkeiten schnell bereinigen.“

Er gab Baghatur ein entsprechendes Signal und nach Anweisungen in einer Sprache, die nur er und Baghaturs Männer verstanden, löste sich die Hälfte seiner Bewacher von der Gruppe und ritt den Berg herunter.

Der Graf schien das Friedensangebot zu begreifen. Er entspannte sich etwas und wies seine Männer an, die Boten loszuschicken.

Wenn er nicht ein Barbar wäre, würde er irgendwann einen brauchbaren Strategos abgeben, dachte Manuel.

„Die Boten erreichen die Hauptarmee rechtzeitig, dass sie es bis zum Abend in diese Dörfer schafft, um dort Quartier zu nehmen. Ab morgen können wir das Flusstal weitermarschieren. Ab hier ist der Fluss schiffbar, das heißt, wir können mit Flössen zumindest den Proviant schneller transportieren.“

„Gibt es noch weitere Dörfer auf unserem Weg?“

„Nur wenige. Die Bajuwaren siedeln erst seit wenigen Jahren in diesen Gebieten. Es gibt nur noch zwei Vorposten an den Flüssen, die uns gefährlich werden können.“

„In diesen Fällen schicke ich meine Männer.“ Manuel verneigte sich kurz mit Kopf und Oberkörper, um die Stimmung weiter zu entspannen.

Sein Blick wanderte zu einem kleinen Holzturm auf der Spitze des Bergrückens. Von hier aus überblickten Späher nicht nur die drei Dörfer am Fuße des Bergs, sondern auch das Umland in einem weiten Radius.

Die drei jungen Männer, die zuletzt dort Dienst getan hatten, waren immerhin einen schnellen Tod gestorben. Die Pfeile waren so tief in ihre Körper gedrungen, dass Manuel die Augen zusammenkneifen musste, um sie zu erkennen.

Er nickte anerkennend.

Der Graf hatte dies wohl auf sich bezogen und nickte ebenfalls.

„Ich werde mich wieder zu den Dörfern begeben und die Plünderungen beenden. Wir brauchen diese Quartiere noch.“

Sie verabschiedeten sich knapp und als die Reiter zwischen den Bäumen verschwunden waren, überschlug Manuel noch einmal seine Aufträge.

Sein erster Mann müsste mittlerweile schon lange am Ziel eingetroffen sein und dort für Unruhe sorgen. Natürlich bestand damit auch die Gefahr, dass er aufflog. Oder, was noch schlimmer wäre, tatsächlich erfolgreich wäre.

Doch auch für diesen Fall hatte er Sorge getragen.

Langsam entspannte er sich.

In wenigen Tagen sollte Vorhut der fränkischen Armee Ratisbona erreichen.

8. Der überraschte Offizier

Präfekt Maurikius Vulneratus war wütend.

Nur wenige Tage hatten seine Soldaten gebraucht, um ihre Disziplin zu verlieren. Zumindest diejenigen, die er nicht zum Bau der Navis hatte abstellen können. Vergeblich hatte er auf das Statusbewusstsein der Cataphractii gebaut.

Und er musste nun im Auftrag des Gesandten – und im Sinne seiner Pflicht als ihr Vorgesetzter – dafür sorgen, dass die Elite der römischen Armee in den Augen der Barbaren auch ihren Ruf behielt.

Er blickte kurz zu einer mehr schlecht als recht gemeißelten Statue, die offensichtlich einen Krieger zeigte, der mit seinem Fuß den abgeschlagenen Kopf eines Feindes treten sollte.

Soviel zu den Fähigkeiten dieser Bajuwaren.

Er konnte seine Männer ja verstehen. Obwohl das Frühjahr schon weit fortgeschritten war, hatte der Nebel den Himmel über dieser Stadt noch immer im Griff.

Auch begannen sich Soldaten nach dem langen Marsch schnell zu langweilen. Vulneratus musste ihnen morgen neue Aufgaben geben.

Er atmete tief ein und aus, bevor er die schmale Gasse betrat. Seine Pflicht erforderte keine Emotionen, sondern Firmitas, die Tugend die römischen Ideale jederzeit hochzuhalten.

Schnell fand er die kleine Tür, vor der sich ein Mann mehr schlecht als recht bemühte, die Gasse unauffällig im Blick zu behalten.

Erst als Vulneratus vor ihm stand, blickte er kurz auf.

„Romanus?“

Immerhin verstand der Türsteher diesen Teil seines Handwerks.

Als Vulneratus nickte, grinste er kurz und neigte den Kopf in Richtung der kleinen offenen Tür, die sofort in eine Treppe hinunter in das Kellergewölbe des Hauses überging. Vulneratus hörte bereits laute Gespräche und Lachen.

Der Präfekt erwiderte das Lächeln des Türstehers. Offensichtlich verstand dieser den wichtigsten Teil seiner Arbeit nicht.

Das sagte ihm allein das eingefrorene Lächeln von zwei seiner Soldaten, als er nach der Treppe nach links bog und gleich die Theke dieser Spelunke vor sich hatte.

Drei weitere fand er sofort rechter Hand, auch wenn sie sich versuchten, sich in die dunkle Nische hinter dem Tisch zu drücken.

Linker Hand hörte er schon den Hauptraum. Immerhin würde es also kurz werden.

Doch als er die kleine Stube betrat, hörte er etwas ungewohntes.

An den bajuwarischen Dialekt von Castra Regina hatte er sich schnell gewöhnt.

Umso mehr verwunderte ihn, was einer der Gäste in dieser barbarischen Sprache von sich gab.

„… daher sagt das Gleichnis, dass die Menschen in der Höhle nur die Schatten sehen, aber für die echten Dinge halten…“

Der Sprecher brach kurz in ein lautes Lachen aus, über einen Witz, den offensichtlich nur er selbst verstand. So deutete Vulneratus zumindest die gelangweilten Gesichter der anderen alkoholisierten Männer am Tisch.

Doch als der Sprecher gerade seinen Becher aufsetzte und den Inhalt in einem Zug leerte, erkannte ihn Vulneratus.

Es war der bajuwarische Soldat, der ihn in die Kapelle geführt hatte.

In nächsten Moment spannten sich automatisch alle seine Muskeln an.

Denn der Soldat blickte ihn auf einmal direkt an und Vulneratus erkannte drei Dinge.

Erstens hatte ihn der Bajuware erkannt.

Zweitens hatte er verstanden, was auch Vulneratus erkannt hatte.

Drittens war der Bajuware sofort darauf aus, sein Geheimnis zu bewahren.

Doch dann brach oben an der Tür Geschrei aus.

Einen Schrei erkannte Vulneratus sofort.

Er rannte los zur Treppe.

9. Der tödliche Philosoph

Er hatte seine Fehler zu spät bemerkt.

Er hatte zu viel getrunken.

Er hatte diesen verständnislosen Barbaren zu viel erzählt.

Er hatte den Offizier zu spät gesehen.

In seinem alten Leben wäre er nun tot gewesen.

In diesem Leben hatte die schwerfällige Reaktion des Halb-Barbaren ihm eine Chance geschenkt.

Sein Körper spannte sich unter dem Tisch an, während seine Hand zu einem der Messer am Tisch glitt.

Er visierte die ungeschützte Kehle an.

Als sein potenzielles Opfer alle Regeln eines Zweikampfes missachtete, sich umdrehte und ohne auf Deckung zu achten, aus dem Raum rannte.

Das verblüffte sogar ihn für einen Moment.

Dann hörte auch er die Schreie. Und Geräusche, die auf noch mehr Ärger hindeuteten.

Der Rest der Gäste schien entweder durch Alkohol oder durch das plötzliche Auftreten des Offiziers zu überrascht, um ähnlich schnell zu den gleichen Erkenntnissen zu gelangen.

Also nutzte er diese Gelegenheit und rannte ebenfalls hinauf.

Am Ende der Treppe stoppte er nur kurz, um möglichen Überraschungen jenseits des Türrahmens nicht in die Arme zu laufen.

Er fand jedoch nur den Türsteher vor, der in seinem eigenen Blut an der Wand neben der Tür lag.

Mit einem Messer genau im Herzen, wie er fasst anerkennend feststellte.

In der Gasse lag ebenfalls ein Toter.

Die Wunde in seinem Rücken hatte ihm zwar keine Chance gelassen, schien ihm aber das Werk eines Anfängers.

Als letztes bemerkte er den Offizier, der an der gegenüberliegenden Wand kniete. Und die Frau, die vor ihm an der gleichen Wand lehnte.

Sie hielt mit der rechten Hand immer noch eine blutige Spatha. Ihre linke lag auf einem immer größeren Blutfleck, der sich auf ihrem Mantel ausbreitete.

Der Offizier riss währenddessen an seinem Umhang und versuchte daraus einen provisorischen Verband zu basteln. Er redete in seinem ungeschliffenen Latein des Westens sehr schnell auf die Frau ein.

Normale Menschen wäre die Szenerie zwar unübersichtlich, aber relativ schnell auch klar erschienen.

Nicht so ihm.

In seinem alten Leben hatte er genügend Kämpfe in engen Gassen mitgemacht.

Er bemerkte den halb abwesenden Blick der Frau die Gasse hinunter.

Und die kleinen Blutflecken auf dem Pflaster dort.

Er rannte sofort los und bemerkte nur noch wenig, dass sich der Rest der Halb-Barbaren langsam aus der Starre gelöst hatte und ihm die Treppe hinauf folgte.

Die Gasse endete auf einem kleinen Marktplatz, der vom Tag immer noch nach Fisch stank.

Doch er fand weitere kleinere Blutspritzer und folgte ihnen über den Platz in eine Gasse, die sofort nach rechts abbog.

Er hörte das Rauschen des nahen Flusses, als er vor sich einen Schatten sah.

Etwas Spitzes aus der Dunkelheit kam plötzlich auf ihn zu. Ohne seinen Laufrhythmus zu unterbrechen, wich er aus.

Immerhin erkannte er an der Pose, dass sein Gegenüber am linken Arm verwundet war. Und dass er heute noch mehr Glück hatte, als gedacht.

Sein Plan entstand binnen zwei Schritten, als er das Aufblitzen eines kurzen Schwertes in der Dunkelheit sah.

Er nahm die rechte Hand an sein Schwert und warf mit der linken das Messer, das er immer noch dabeihatte, nach dem Schatten.

Der Wurf war nicht gezielt. Das war aber auch nicht sein Ziel.

Der Schatten zog mit der rechten Hand sein Schwert nach oben und wehrte das Messer ohne Probleme ab.

Doch in diesem Moment war dessen Schicksal besiegelt.

Er zog sein Schwert und stach nach der Brust des Schattens.

Dieser versuchte erneut abzuwehren. Aber mit seiner verwundeten linken Hand war er zu langsam.

Er brach mit einem leisen Stöhnen zusammen, als das Schwert in den Brustkorb stieß.

Als der Mann mit einem Blutschwall seinen letzten Atemzug tat, gab er ihm noch einen letzten Rat mit.

„Die linke Hand führt das Schwert, Erasitéchnis.“

Ohne sich weiter um den Toten zu kümmern, lief er zum nahen Fluss und begann seine Waffen sowie seine Kleidung vom Blut zu säubern.

Wer hätte gedacht, dass er seinen Auftrag so schnell erledigt hätte.

Er seufzte, während er auf die Baustelle der großen Brücke vor ihm blickte.

Leider war das nicht das Ende seines neuen Lebens.

Als er hinter sich das lauter werdende Geschrei der halben und ganzen Barbaren hörte, zog er sich schnell wieder in die Gassen zurück.

Er lauschte kurz und lachte still in sich hinein.

„Ich schätze, noch eine tote Amateurin kann nützlich sein.“

10. Der tastende Träumer

Er als Veteran, blutüberströmt, auf einem längst vergessenen Schlachtfeld zum Frankenreich am Rhodanus.

Er als Offizier, brüllend seine Männer zum Angriff gegen auf Sizilien eingefallene Muslime treibend.

Er als Geschlagener auf einem verzweifelten Rückzug, nachdem seine Einheit auf der Heerstraße am Lacus Lemanus in einem Hinterhalt aufgerieben war.

Er tastete und fand es nicht.

Bilder durchströmten ihn, ohne dass er halt fand.

Tobende Emotionen zerrten an seinem Selbst. Manifestierten sich in der Vergangenheit.

Ein hünenhafter Franke holte mit seiner Wurfaxt aus und er sah, wie sie auf ihn zuflog.

Unfähig, sich zu bewegen, während die Axt immer näherkam.

Er wartete schon auf den dumpfen Einschlag auf seinem Brustkorb, gefolgt vom berstenden Knacken und plätscherndem Blut.

Die letzten Geräusche, die sein sterbendes Selbst erleben würde.

Da fanden die tastenden Finger es endlich.

Die drei gebrochenen Ringe an seiner rechten Hüfte.

Heftig atmend wachte er auf.

Sein erster Blick ging an die Kettenrüstung, die er griffbereit neben sein Bett gehängt hatte.

Er tastete erneut.

Die drei gebrochenen Ringe waren da.

Er hatte eine Nacht überlebt.

Jetzt musste er das auch noch über den Tag schaffen.

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