Um 1910 ist in dieser Alternative History ein Weltkrieg unvorstellbar. Dafür feiert die dampfbetriebene Luftfahrt immer neue Entwicklungen und Rekorde. Aber diese Geschichte hat auch ihre Schattenseiten.

Ankerpunkt

Die ersten Flugzeuge

Als Beginn der modernen Luftfahrt gilt der Flug der Gebrüder Wright 1903. Ihnen gelang es am 17. Dezember erstmals selbstständig mit Motorkraft kurze Flüge (siehe unten Bild von einem späteren Test) zu absolvieren.

Schwarz-Weiß-Foto eines Flugzeugs der Gebrüder Wright bei einem Testflug nach 1903
(Everett Collection/Shutterstock)

Doch bereits davor gab es Konstrukteure und Flieger (in der Mehrzahl Männer). Zum Beispiel den Deutschen Otto Lilienthal, der bis zu seinem Tod bei einem Gleitflugversuch viele Grundlagen der Aerodynamik entdeckte.

Das führte dazu, dass verschiedene Modelle erprobt wurden, bevor sich die heute bekannte Form von Flugzeugen (und Hubschraubern) durchsetzte.

Noch nach 1903 gab es verschiedene Experimente mit Doppel-, Dreifach- und Mehrfachdeckern. Auch testeten Pioniere die Anordnung von Propellern, verschiedene Materialien wie Holz, mit Tuch bespannte Tragflächen und Spanndrähte, oder andere Innovationen wie gewölbte Flügel.

Entsprechend gab es viele Flugzeugmodelle, die in der Realität nie vom Boden abhoben.

Zudem gab es andere Konzepte, die mit den Flugzeugen konkurrierten. Zum Beispiel die nach ihrem Schöpfer benannten Zeppeline.

Diese Vielfalt hatte ihren Hintergrund darin, dass viele physikalische Theorien über den Flug in größerer Höhe noch nicht getestet waren. Ebenso waren grundlegende Konstruktionstechniken der Flugzeuge noch unbekannt und Erfahrungen der Piloten in großer Höhe kaum vorhanden.

Dennoch kam es schnell zu Durchbrüchen und Rekorden im modernen Fliegen. Zum Beispiel überquerte der Franzose Louis Blériot im Jahr 1909 als erster Mensch in einem selbst gebauten Flugzeug den Ärmelkanal.

Dem gegenüber standen zahlreiche Unfälle. Diese gingen aufgrund der Leichtbauweise der Flugzeuge und der geringen Geschwindigkeiten manchmal glimpflich aus. Oft starben aber Pioniere aus der ersten Zeit der modernen Luftfahrt.

Erst nach dem Ersten Weltkrieg und der Entwicklung von moderneren Kampfflugzeugen dafür entwickelte sich die Luftfahrt zum heutigen Wirtschaftszweig.

Die Science-Fiction um die Jahrhundertwende

Die Science-Fiction um das Jahr 1900 war stark geprägt von den neuen Techniken der Industriellen Revolution.

Dies waren neben der Dampfkraft vor allem die Eisenbahn, die Elektrizität und die neuen Möglichkeiten der Fliegerei.

Anders als einer der ersten Science-Fiction-Romane aller Zeiten, „Frankenstein“ der Autorin Mary Shelley, waren Autoren wie Jules Verne von starkem Fortschrittsoptimismus durchdrungen.

So schossen in diesen Geschichten geniale Erfinder Menschen mit Projektilen zum Mond oder lebten in U-Booten unter Wasser.

Ein anderer bekannter Autor der Zeit war skeptischer: H.G. Wells griff von Zeitreisen über politische Dystopien und Invasionen von Außerirdischen alle Themen auf, die die Science-Fiction bis heute prägen.

Illustration einer Steampunk-Welt
(Melkor3D/Shutterstock)

1908 behandelte er auch die Luftfahrt in einem seiner Romane: In „The War in the Air“ griffen deutsche Luftschiffe New York an.

Aus diesem Science-Fiction-Hintergrund entwickelte sich seit den 1970ern der Steampunk (siehe Bild oben) als Teil der Jugendkultur. Dieser erschuf ausgehend vom 19. Jahrhundert eine andere Technikgeschichte mit Dampfmaschinen und Luftschiffen als Ausgangspunkt seiner Geschichten.

Inhalt

Das andere Jahr 1910

In „Das Fliegerbuch“ steht ebenfalls die Luftfahrt im Vordergrund.

Um das Jahr 1910 lebt Kaiser Friedrich III. noch, während Wilhelm II. als flottenbegeisterter Kronprinz eine skurrile Randerscheinung darstellt.

In Europa belauern sich zwar die Großmächte, aber ein echter Krieg erscheint den Menschen komplett unwahrscheinlich.

Das britische Empire beherrscht die Meere. Da Alfred von Tirpitz aber einem Attentat zum Opfer gefallen ist, gibt es kein Wettrüsten zwischen den Flotten.

Straßburg scheint französisch zu sein, weshalb die Republik Frankreich und das Deutsche Reich ein freundschaftliches Verhältnis pflegen.

Nur die USA sind nach zwei Sezessionskriegen zwischen Union und Konföderierten großflächig kriegszerstört und spielen neben dem prosperierenden Europa keine Rolle in der Weltpolitik.

Am Rande erwähnt Kurt Möser noch, dass die Titanic und die Lusitania ebenfalls gesunken sind.

Der Autor gliedert „Das Fliegerbuch“ in zwei verschiedene Arten von Kapiteln, in denen er unterschiedliche Aspekte dieser Alternativwelt behandelt.

Die Welt von „Das Fliegerbuch“

In mehreren kleinen Kapiteln schildert Kurt Möser unterschiedliche Entwicklungen, die die Welt von „Das Fliegerbuch“ ausmachen.

In „Luxus und Moden“ beschreibt er vor allem Trends in der Unterhaltungsbranche, die stark vom Fliegen geprägt sind. Dies geht von Flugphantasmagorien (Attrappen, die Flüge simulieren) über Ferrotypien (Fotografien) mit Flughintergründen bis zum Jugendsport des Gleitfliegens.

Die Kapitel „Erste und letzte Flüge“ befassen sich mit den Gefühlen und Eindrücken, die bei ersten Flügen und Abstürzen als letzten Flügen aufkommen. Als Beispiele nennt Kurt Möser Blériots ersten Kanalflug (siehe unten Bild eines Flugzeug-Nachbaus) und die zahlreichen Todesfälle bei neuen Flugversuchen.

Nachbau eines alten Flugzeugs des Pioniers Louis Blériot in der Luft
(Petr Masek/Shutterstock)

Bei „Aus dem Ausbildungsbetrieb“ geht es vor allem um die schwierige Ausbildung der nächsten Generation von Piloten. Diese ist sowohl von verschiedenen Tätigkeiten als auch von Tests wie der damals gängigen Untersuchungen der Schädelform geprägt.

„Schöne Maschinen“ dreht sich um Details der neuen Flugzeuge und anderer neuen Erfindungen, zum Beispiel bei einem Wellblechflugzeug oder hydraulischen Maschinen in Venedig.

Im Kapitel „Geselliges“ beschreibt Kurt Möser vor allem soziale Anlässe in „Das Fliegerbuch“. Dabei erzählt ein Amtsrat zum Beispiel vom Spionagegeschäft im Bereich der Flugzeugtechnik, bei dem verschiedene Persönlichkeiten von Männern und Frauen aktiv waren.

„Flugimaginationen“ bezeichnet verschiedene Vorstellungen von Menschen mit Bezug zur Fliegerei. Dies geht von vorgetäuschten Flugversuchen über unbekannte Flugobjekte in großen Höhen bis zu den angeblich illusorischen Plänen für Zeppeline.

„Liquidationen“ verfolgt Agenten eines deutschen Geheimdienstes, die mehrere Personen bei Attentaten ermorden: Einen Sherlock Holmes Darsteller eines Detektivkollektives, aber auch den österreich-ungarischen Generalstabs-Offizier Franz Conrad von Hötzendorf und Alfred von Tirpitz.

In „Ausstellungsberichten“ dreht sich alles um die neusten Techniken, wobei diese sich auf andere Bereiche als in der „realen“ Welt konzentriert: Den Dampfmotor für Flugzeuge, Flugortung mittels Erfassens der Fluggeräusche sowie optische Navigationshilfen für Pilotinnen und Piloten.

Die Kapitel „Phantasiebilder“ beschreiben vor allem die Kunst mit Bezug zum Fliegen und zur Technik. Zum Beispiel ein Selbstporträt eines Fliegers, das den tödlichen Absturz überstanden hat und zu einem Kunstwerk verarbeitet wird.

„Anblicke in technischen Räumen“ umfasst als Letztes noch Eindrücke von verschiedenen Orten wie einer Kontrollstelle, deren eigentliche Technik im Verborgenen bleibt.

Am Ende dieser Kapitel steht die Erklärung eines Amtsrates, der seine Erlebnisse in „Das Fliegerbuch“ eingebracht hat und sich nun erklärt.

Die Dienststelle und ihre Agenten

In mehreren, vergleichsweise längeren Kapiteln folgt der Roman parallel einem Agenten, der für eine Dienstelle des Deutschen Reiches die neusten Entwicklungen im Flugzeugbau beobachtet.

Die Aufträge führen den Agenten manchmal zu aus seiner Sicht ereignislosen Orten („Beobachtungen im Adriahafen“) oder enden erfolglos („Das Flugbuch des Kanonenclubs“).

Häufig hat es der Agent mit den Arkanisten zu tun, freigeistigen Technikern und Flugzeugentwicklern, die aufgrund ihres Ideenreichtums („Der Arkanist an der Meeresküste“, „Der Erbauer der Stratosphärenhaubitze„, „Das Luftboot der Erfinderin“) für alle europäischen Großmächte (siehe unten Bild aus der „realen“ Welt mit den rot und blau hinterlegten Büdnisssystemen) wichtig sind.

Karte des Bündnissystems 1914
(Wikimedia-Autor: Furfur/CC BY-SA 3.0)

Am häufigsten sind aber Aufträge, bei denen er Personen wie den Luftfahrtpionier Alberto Santos Dumont („Das Luftdinner des Flugdandys“) oder Bewegungen wie die Lebensreformer („Der Wellenflieger der Lebensreformer“) ausspioniert und deren Techniken auf Folgen für das Deutsche Reich prüft.

Dabei gerät der Agent auch an eine Gruppe von Autoren, die in einer kleinen deutschen Universitätsstadt über einen kommenden Weltkrieg spekulieren und dabei Szenen aus dem „realen“ Ersten und Zweiten Weltkrieg („Die Imaginisten im Hinterzimmer“) schildern.

Zusätzlich ist er in der Spionageabwehr tätig. Zum Beispiel bei der Sicherung eines Forschungsinstituts („Die Strömungsmaschine im Moor“) und bei Nachforschungen zu zwei Mordfällen („Die Opfer der Strahlluftschiffsaffäre“).

Oftmals reist der Agent ins Ausland. Bei diesen Aufträgen begegnet er den Gebrüdern Wright („Die Flugmaschine auf den äußeren Sandinseln“), prüft die Befestigungen von Österreich-Ungarn in den Dolomiten und deren überraschende Bewaffnung („Das Geheimnis der Dolomitenwerke“), infiltriert eine Gruppe irischer Rebellen („Der Lufttorpedo der Fenier“) und besucht russische Flugzeugentwickler („Geheimbericht aus Aerograd“). Bei Versuchen, britische („Die Entdeckung des Riesenohres“) und französische Aktivitäten („Die Ödnis an der Maas“) auszuspionieren, scheitert er aber.

Am Ende dieser Kapitel gibt es noch eine Auflistung verschiedener Gruppen („Die Gattung der Flugprimaten“), die für die Entwicklung der modernen Luftfahrt wichtig sind. Und eine kurze Filmskizze über einen Erfinder („Der Flugpanzerfilm“), dessen Assistent die Premiere seines Flugpanzers sabotiert.

„Das Fliegerbuch“ endet schließlich mit „Echos“ und einem Glossar, in denen Kurt Möser viele, aber längst nicht alle Anspielungen aus den vorangegangenen Kapiteln erklärt.

Rezension

Kleines, komplexes und nerdiges Buch

„Das Fliegerbuch“ von Kurt Möser beschreibt ein anderes 1910. In einer Welt, die noch viel stärker vom Fliegen geprägt ist als die „Reale“.

Allerdings ist der Ankerpunkt dieser Welt unklar. Sowohl das Überleben von Kaiser Friedrich III. als auch die Zerstörung der USA in zwei Sezessionskriegen deutet Kurt Möser an. Mehr aber auch nicht.

Dafür prägen zahlreiche Anspielungen vor allem auf die Frühzeit der Luftfahrt, zum Beispiel die Gebrüder Wright und Louis Blériot, sowie die Science-Fiction des 19. Jahrhunderts, wie Jules Verne und Steampunk, das Buch (siehe Bild).

Cover von "Das Fliegerbuch" des Autors Kurt Möser
(Eigenes Bild)

Hinzukommen noch Hintergründe aus eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen von Kurt Möser sowie aus der realen Technikgeschichte.

Insofern sind die 12 Seiten Glossar und Erklärungen am Ende bei 194 Seiten Text sehr notwendig. Und dass, obwohl sie nur einen Bruchteil der Anspielungen erklären.

Diese zahlreichen Anspielungen sowie die sehr kleinteilige Kapitelstruktur machten es für mich nicht leicht, „Das Fliegerbuch“ trotz seiner Kürze zu lesen.

Hinzu kamen häufig komplexe, lange Sätze, viele altmodische Begriffe sowie für mich schwer zu verstehende Metaphern und Beschreibungen von Wolken.

Dabei schreibt Kurt Möser, beziehungsweise sein Alter Ego des Agenten/Amtsrats meistens in der Ich-Perspektive, probiert manchmal aber auch andere Stile aus.

Erst nachdem ich mich durch einige Kapitel „durchgekämpft“ und eine Struktur für mich gefunden hatte, entdeckte ich langsam einen roten Faden.

Nach dieser Erkenntnis fand ich „Das Fliegerbuch“ von Kurt Möser eine durchaus faszinierend geschriebene Alternativweltgeschichte über das Fliegen.

Die Empfehlung ist aber nur bedingt: Das Buch ist aus meiner Sicht vor allem etwas für Nerds mit Bezug zum Fliegen und zur Technikgeschichte.

Quellen und Literatur

  • Kurt Möser: Das Fliegerbuch. Abenteuer in einer anderen Vergangenheit. Bonn 2017.Thalia Button
  • GEO Epoche: Der Traum vom Fliegen. Von Leonardo da Vinci bis zur Mondlandung. Wie der Mensch den Himmel eroberte. 1500-1969. August 2017.Thalia Button
  • DER SPIEGEL Geschichte: Das Deutsche Kaiserreich. 1871 bis 1914: Der Weg in die Moderne. Mai 2013.Thalia Button
  • Lore Schulze-Velmede: In der eisigen Höhe froren seine Augen ein, dann stürzte er in die Tiefe. Nahtod-Erfahrung in der Luft, auf: welt.de (27.02.2023).
  • Frank Weinreich: Science Fiction Geschichte, auf: polyoinos.de (03.03.2016).
  • DIE ZEIT Geschichte: Das Deutsche Kaiserreich. November 2010.

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