In dieser Dystopie gründet Lenin im Exil die Schweizer Sowjetrepublik. 96 Jahre später kämpft sich ein Schweiz-afrikanischer Politkommissar im kriegszerstörten Neu-Bern durch Schweizer Mythen und kommunistische Utopien.

Ankerpunkt

Lenin in der Schweiz

Vor 1914 war die Schweiz wegen ihrer vergleichsweise liberalen Rede- und Versammlungsrechte ein Fluchtpunkt für viele Exilanten. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs strömten weitere politische Flüchtlinge in das neutrale Land.

Darunter war auch der aus dem russischen Zarenreich verbannte Kommunist Wladimir Iljitsch Uljanow (siehe Bild), dessen „Kampfname“ Lenin lautete.

Schwarz-Weiß-Foto von Lenin an seinem Schreibtisch
(Everett Collection/Shutterstock)

Der Vorsitzende der Bolschewiki, der radikalen Fraktion der russischen Sozialdemokraten, versuchte zuerst in Bern, Kontakte zu lokalen Vertretern der Schweizer Linken aufzubauen.

Diese Versuche scheiterten allerdings. Ebenso wie seine Agitation für einen bewaffneten Aufstand der Arbeiter auf den Konferenzen der europäischen Linken in Zimmerwald 1915 und Kiental 1916 (beides Kanton Bern).

Stattdessen zerstritt er sich mit dem mächtigen, aber gemäßigten Schweizer Sozialdemokraten Robert Grimm aus Bern.

Als Reaktion darauf zog Lenin nach Zürich. Dort arbeitete er nicht nur an theoretischen Werken des Kommunismus, sondern baute auch eine eigene politische Gruppierung um sich auf.

Eines der Ziele dieser Gruppe war es, einen bewaffneten Aufstand in der Schweiz vorzubereiten.

Nach anfänglichen Erfolgen bei den Züricher Sozialdemokraten scheiterte Lenin aber im Aufbau einer eigenen Organisation.

Stattdessen fokussierte er sich auf die im Februar 1917 ausgebrochene Revolution in Russland.

Dort suchte das kaiserliche Deutsche Reich seit 1915 bei den Exilanten um Lenin nach Verbündeten gegen das verfeindete Zarenreich. Lenin und die Bolschewiki waren interessant, da sie ein sofortiges Einstellen der Kämpfe durch Russland forderten.

Nachdem die deutschen Stellen bis 1917 die Bolschewiki finanziell unterstützt hatten, ermöglichten sie im März/April dieses Jahres die Reise von Lenin im teilweise plombierten Zug aus der Schweiz bis nach Russland.

Entscheidend dafür war auch die Fürsprache von Schweizer Sozialisten bei den deutschen Stellen.

Angekommen in Petrograd, dem vorherigen und heutigen St. Petersburg, propagierte Lenin im Gegensatz zur Mehrheit der Linken und Teilen der Bolschewiki einen Staatsstreich gegen die liberale Übergangsregierung.

Im Gegensatz zur Schweiz war er aber dort nach mehreren Versuchen erfolgreich, mit der Oktoberrevolution 1918.

Der Landesstreik 1918

Was wäre stattdessen gewesen, wenn Lenin 1917 in der Schweiz geblieben wäre? Manche Autoren denken, dass dann der Landesstreik von 1918 für ihn die große Chance gewesen wäre, in der Schweiz einen Putschversuch zu unternehmen.

Bei diesem Ereignis handelte es sich um einen landesweiten Generalstreik im November 1918, der die Schweiz in die größte Krise des 20. Jahrhunderts stürzte.

Der Landesstreik entzündete sich an den wirtschaftlichen Verwerfungen des Ersten Weltkrieges, die auch das neutrale Land betrafen.

Auf der einen Seite profitierten viele Betriebe und die Bauernschaft von der Kriegskonjunktur. Dagegen bedrohte vor allem die Inflation die in Armut abgerutschte Arbeiterschaft.

Deshalb kam es bereits ab 1917 zu einer starken Zunahme von lokalen Streiks.

1918 verschärfte sich die Lage nochmals. Robert Grimm gelang es im Februar, die wichtigen Gewerkschafts- und Parteifunktionäre der Sozialisten/Sozialdemokraten im „Oltener Aktionskomitee“ zu vereinigen. Dieses Gremium ermöglichte es der Arbeiterbewegung, ihre Forderungen geschlossen und mit der Drohung eines landesweiten Generalstreiks verbunden zu formulieren.

Im Herbst sorgten diese Drohungen und die stattfindenden Revolutionen in Deutschland sowie in Österreich aber bei den Schweizer Bürgerlichen und in der Armeeführung für eine enorme Angst vor einer sozialistischen Revolution (siehe Bild). Daher forderten Vertreter des „Bürgerblocks“, dass die bei Kriegsende demobilisierte Armee vorher eingreifen sollte.

Kommunistische rote Fahne mit Hammer und Sichel
(All themes/Shutterstock)

Der Landesstreik begann nach dem Einmarsch der Schweizer Armee in Zürich am 7. November. Diesen hatte der Schweizer Bundesrat vor dem Hintergrund von Unruhen beschlossen.

Das „Oltener Aktionskomitee“ rief als Reaktion darauf am selben Tag zur Arbeitsniederlegung am 9. November auf.

Dieser Streiktag verlief ruhig. Am 10. November kam es aber in Zürich zwischen streikenden Arbeitern und Soldaten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Dies heizte die Stimmung nochmals enorm auf.

Als Reaktion darauf und um den Einfluss auf die streikenden Arbeiter in Zürich nicht zu verlieren, rief das „Oltener Aktionskomitee“ am 12. November den unbefristeten Generalstreik aus. Ein mögliches Ende verband es mit neun weitreichenden politischen und sozialen Forderungen.

Am darauffolgenden Landesstreik nahmen circa 250.000 Menschen teil. Dennoch verlief er größtenteils ruhig, da die Arbeiterorganisationen Maßnahmen durchsetzten, die eine Eskalation verhindern sollten. Nur in Grenchen (Kanton Solothurn) kam es nach einem Aufmarsch des Militärs zu Unruhen mit drei toten Streikenden.

Ein Putschversuch war vonseiten der fast unbewaffneten Arbeiterschaft zu keinem Zeitpunkt geplant.

Die bürgerlichen Parteien, die einen solchen Putschversuch befürchtet hatten, zeigten sich nach der ersten Überraschung und dem Ausbleiben einer revolutionären Eskalation zuerst kompromisslos.

Sie forderten einen bedingungslosen Streikabbruch, dem das „Oltener Aktionskomitee“ aus Furcht vor einem Niederschlagen durch die Armee am 14. November nachgab.

Nachdem am 15. November die Arbeit größtenteils wiederaufgenommen worden war, kam es zuerst zu Repressionen gegen das „Oltener Aktionskomitee“ und einzelne Streikende. Auch gehörte die Propaganda, der Landesstreik wäre ein Putschversuch gewesen, über bis in die 1970er Jahre fest zur antikommunistischen Propaganda der bürgerlichen Parteien.

Allerdings sorgte der Landesstreik langfristig für soziale Fortschritte. So kam es 1919 zur Erfüllung einer seiner Forderung durch das Einführen der 48-Stunden-Woche. Auch gaben sich Arbeitgeber und Bundesbehörden in verstärktem Maße kooperationsbereiter gegenüber den Gewerkschaften.

Dies zeigte sich vor allem im Zweiten Weltkrieg, als die Schweizer Behörden die Arbeiterorganisationen von Anfang an in die Organisation der Kriegswirtschaft miteinbezogen.

Das Reduit

In diesem Konflikt, in dem die Schweiz nach der Niederlage Frankreichs 1940 komplett vom nationalsozialistischen Deutschen Reich und dessen Verbündeten umschlossen war, gewann das Konzept eines Reduit an Bedeutung.

Damit gemeint war eine zentrale Verteidigungsstellung in den Alpen von den Kantonen Wallis bis Schwyz (siehe auf der Karte blau unterlegt). Diese stützte sich auf die bereits zuvor ausgebauten Festungssysteme von Gotthard (im gleichnamigen Gebirgszug in der Mitte des blauen Bereichs), Saint-Maurice (Genfer See bis Großer St. Bernhard) und Sargan (Kanton St. Gallen an der Grenze zu Österreich).

Karte der Befestigungsanlagen in der Schweiz mit dem Reduit in den blau unterlegten Regionen.
(Wikimedia-Autor: Auge=mit/CC BY-SA 4.0)

Das Reduit diente als letzte Befestigung sowie Rückzugsort für die Schweizer Armee und den Bundesrat.

Die schwer befestigten Stellungen, die nach einer Teilmobilisierung im Wechsel mit jeweils mehreren Divisionen besetzt waren, dienten vor allem der Abschreckung.

Neben den bis 1942 vollendeten Befestigungen sollten vor allem die schwierige Hochgebirgslage (siehe Bild des Gotthardpasses aus der heutigen Zeit) und die bei einem Angriff erfolgte Zerstörung der Nord-Süd-Verkehrsverbindungen die Achsenmächte von einer Invasion abhalten.

Panoramabild des Gotthardpasses
(Freedom_wanted/Shutterstock)

Das Konzept war nicht unumstritten: Kritiker monierten, dass bei einem Angriff die Schweizer Armee im Reduit abgeschnitten und binnen weniger Monate ohne großen Aufwand ausgehungert werden konnte.

Dennoch entwickelte sich vor allem in der Nachkriegszeit das Reduit zu einem nationalen Mythos der Schweiz. Es verkörperte vor allem für die darin stationierten (wehrpflichtigen) Soldaten den Verteidigungswillen einer unabhängigen Schweiz.

Nachdem die Schweizer Armee die Anlagen im Kalten Krieg noch weiter ausgebaut und genutzt hatte, wurden sie nach 1990 schrittweise aufgegeben und demontiert.

Inhalt

Die Schweizer Sowjetrepublik

Der namenlose Erzähler in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ ist Politkommissar in der Schweizer Sowjetrepublik (SSR).

Die SSR entstand nach 1918, als Lenin nicht am Ende des Ersten Weltkrieges mit dem Zug nach Russland reiste. Denn sein Heimatland zerfiel durch die Folgen der Tunguska-Explosion immer mehr.

Stattdessen gründete er mit Leo Trotzki und Robert Grimm in der Schweiz die SSR.

Diese befindet sich in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ seit 96 Jahren im Krieg mit mehreren Mächten: Im Norden entlang des Rheins kämpft die SSR gegen deutsche und britische Faschisten, im Osten Europas gegen die Soldaten Hindustans und Koreas.

Die SSR besteht in diesem Konflikt vor allem aus zwei Gründen.

Erstens verfügt sie mit dem Reduit über ein gewaltiges Festungswerk, das ihrer Führung als vermeintlich uneinnehmbarer Rückzugsort dient und so die Moral der eigenen Armee stärkt.

Zweitens gelang es der SSR zu einem unbekannten Zeitpunkt, Ostafrika bis nach Malawi von der Kolonialherrschaft zu befreien. Im Gegenzug für „moderne“ Infrastruktur rekrutieren die Kommunisten seitdem über die von ihnen beherrschten norditalienischen Häfen Ressourcen und Soldaten aus diesen Gebieten.

Der Politkommissar

Der Erzähler von „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ ist in Njassaland (Malawi) geboren und wurde mit 14 Jahren Rekrut der SSR.

Zuerst begeistert vom antirassistischen Egalitarismus der Schweizer wurde er zu einem Offizier der SSR ausgebildet und schließlich in die Kriegszone nach Europa geschickt.

Als Politkommissar gilt er als gewissenhaft und als einer der wenigen Funktionäre, der dank seines Notizbuches noch Lesen und Schreiben kann. Denn Schrift und Bücher sind als Wissen fast ausgestorben sowie durch mündliche Überlieferung und Kommunikation ersetzt.

Im winterlichen (Neu-)Bern (siehe Bild aus der heutigen Zeit), das die Kommunisten nach acht Jahren deutscher Besetzung zurückerobert haben, sucht er den jüdischen Offizier Brazhinsky. Dieser gilt als potenzieller Verräter an der SSR.

Foto des winterlichen Berns
(Boris Stroujko/Shutterstock)

Dabei erfährt er, dass Brazhinsky mit der „Rauchsprache“ eine neue Art der Kommunikation nutzen kann, die Telepathie und Telekinese verbindet.

Nachdem seine Nachforschungen in Neu-Bern ergeben haben, dass der Offizier in das Reduit geflohen ist, nimmt er die Verfolgung in Richtung Süden auf.

Dabei entgeht er zweimal knapp dem Tod.

Doch als er Brazhinsky schließlich im Reduit aufspürt, wird er mit Entwicklungen konfrontiert, die seine Vorstellungen überschreiten und die das weitere Schicksal der SSR entscheiden.

Rezension

Das unwahrscheinliche Szenario

Die Schweizer Sowjetrepublik aus „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ ist natürlich ein unwahrscheinliches Alternative History Szenario.

Lenin hatte zwar bis 1917 versucht, in seinem Schweizer Exil eine Gruppe von Revolutionären um sich zu scharen, die einen gewaltsamen kommunistischen Staatsstreich durchführen wollten.

Er scheiterte damit aber bereits, bevor er die Schweiz in Richtung Russland verließ.

Auch der Schweizer Landesstreik kann nicht als Vorlage dienen. Weder hatten seine Anführer im „Oltener Aktionskomitee“ einen Putsch geplant, noch waren die Streikenden ausreichend bewaffnet, um einen solchen durchzuführen.

Ironischerweise lässt Christian Kracht die SSR sogar durch Lenin, Trotzki und Robert Grimm gründen, obwohl Lenin in der Realität Grimm als zu gemäßigt verurteilte.

Nur der Mythos des Reduit als letzte und uneinnehmbare Festung der SSR hat einen starken Bezug zur realen Schweizer Geschichte. Auch in dem Sinne, dass unklar ist, inwieweit der Mythos der realen Stärke der Befestigung entspricht.

Die Schweizer Dystopie des Kommunismus

Mit „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ beschreibt Christian Kracht weniger ein realistisches Szenario als eine Dystopie mit dem Hintergrund der Schweiz und des Kommunismus.

So ist das Reduit im Roman eine Utopie auf die kommunistische Herrschaft und den Schweizer Verteidigungswillen. Beides wird überhöht, obwohl nie klar wird, wie das Reduit funktioniert. Beides erweist sich im Laufe der Geschichte als hohl.

Auch die multikulturelle Identität der Schweiz und ihre angebliche Toleranz wird in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ (siehe Bild des Covers) satirisch überhöht.

Cover von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von Christian Kracht
(Eigenes Bild)

So schwankt der Politkommissar zwischen seiner beruflichen Identität als Schweizer Politkommissar und den Erinnerungen an seine Herkunft aus (Ost-)Afrika.

Auch die SSR ist eine kulturelle und sprachliche Mischung aus Elementen der Schweiz sowie von Ostafrika. Dies zeigt sich zum Beispiel im Verwenden von afrikanischen Begriffen und Gerichten im Laufe der in der Schweiz stattfindenden Handlung.

Verweise auf die kommunistische Utopie finden sich ebenfalls. So äußert der Politkommissar den Gedanken, dass das Elend seiner Welt endet, wenn der Kommunismus siegt.

Mit kleineren Erwähnungen verarbeitet Christian Kracht die Utopien der Nachkriegsmoderne in der „Modernisierung“ von Ostafrika durch die SSR nach den Plänen des Architekten Le Corbusier.

Auch die Schweizer Toleranz und die im Buch geäußerte moralische Überlegenheit der SSR gegenüber ihren deutschen Feinden werden konterkariert. So gibt es auf beiden Konfliktseiten Rassismus und Gräueltaten.

Am Ende erweist sogar die „Rauchsprache“, die zuerst als Vorbote einer neuen Zeit gilt, als Chimäre.

Bezeichnenderweise lässt Christian Kracht den Politkommissar in Neu-Bern und im Reduit zuerst im tiefen Winter auftreten und kombiniert die Handlung mit dem Sommeranfang, je weiter der Erzähler sich von beidem entfernt.

Insgesamt ist „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ trotz einer Anspielung auf „Das Orakel vom Berge“ in einem Kapitel keine realistische Alternative History.

Aber eine gnadenlose Satire auf die Utopien der Schweiz und des Kommunismus.

Quellen und Literatur

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann teile ihn gerne mit anderen!