Wie wirken sich traumatische Erinnerungen an Krieg und Verbrechen in einer Alternative History des „Morgenthau-Plans“ auf die Menschen aus? Antwort: Beides belastet sie ihr ganzes Leben lang.

Ankerpunkt

Der Morgenthau-Plan

Am Ende des Zweiten Weltkriegs planten die Alliierten die Nachkriegszeit.

So forderte in den USA eine Gruppe um den Finanzminister Henry Morgenthau eine weitgehende Deindustrialisierung und politische Aufteilung des Deutschen Reiches.

Doch Argumente, dass ein zerstückeltes und deindustrialisiertes Deutschland dauerhaft instabil sowie wirtschaftlich verelendet bleiben würde und damit dauerhaft unter Besatzungsregime stehen müsste, sorgen für ein Ende des „Morgenthau-Plans“.

So blieb Deutschland auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 zwischen US-Präsident Roosevelt, dem britischen Premierminister Winston Churchill und dem sowjetischen Diktator Josef Stalin als einheitlicher politischer und wirtschaftlicher Raum jenseits der vier Besatzungszonen (siehe Karte) erhalten.

Karte der vier Besatzungszonen in Deutschland
(Wikimedia-Autor: glglgl/CC BY-SA 3.0)

Diese Entscheidung bildete die Basis für die spätere Gründung der Bundesrepublik Deutschland mitsamt dessen Wirtschaftswunder sowie der Deutschen Demokratischen Republik.

Zu viel und zu wenig Vergangenheit

Die Erinnerungskultur der Nachkriegszeit war dennoch zuerst negativ geprägt.

So gab es Gedenkveranstaltungen sowohl für die Opfer des Nationalsozialismus als auch für die Kriegsopfer unter den anderen Deutschen.

Auch gab es literarische und wissenschaftliche Werke zu den verschiedenen Themen.

Doch diese erreichten die Millionen Betroffenen oft nicht.

Einerseits gab es für viele Überlebende ein „zu viel“ an Vergangenheit in Form von traumatischen Erinnerungen.

Dazu gehörten in erster Linie die Gewalt- und Todeserfahrungen zum Beispiel von Häftlingen in den Konzentrationslagern. Daneben gab es auch die Erinnerungen an Bombennächte, Vertreibungen oder Kriegserfahrungen.

Diese Traumata waren schwerwiegend und meistens unbehandelt. Daher verschwiegen die Betroffenen diese Ereignisse in vielen Familien, zum Beispiel gegenüber den Kindern der Nachkriegsgeneration, bis ans Lebensende.

Andererseits gab es auch ein „zu wenig“ an Erinnerung.

Denn gerade das Erinnern an die nationalsozialistischen Verbrechen und Verstrickungen großer Teile der Bevölkerung stieß auf Widerstand.

Zwar versuchten vor allem die US-Amerikaner mit der „Entnazifizierung“ und „Reeduction“, dieses Erinnern zu stärken. Ziel war es damit, den Deutschen Nationalsozialismus und Militarismus abzuerziehen.

So mussten zum Beispiel Deutsche ehemalige Konzentrationslager besichtigen, um diese mit der Schuld an den Verbrechen zu konfrontieren.

Doch die Pläne scheiterten an einer Bevölkerung, die viel zu stark in das Dritte Reich verstrickt war.

Die wenigsten hatten Interesse daran, dass die zahlreichen Verbindungen aufgedeckt, dokumentiert und womöglich bestraft würden.

Auch erregten die oft willkürlichen Kriterien der „Entnazifizierung“ den Unmut der Menschen und trugen zu einer fatalen Solidarisierung bei.

Ausdruck dieser war das massenhafte Ausstellen von „Persilscheinen“, um sich mittels positiver Zeugenaussagen in den Prüfverfahren gegenseitig zu entlasten.

Oder die Proteste und Gnadengesuche für von den Alliierten verurteilte nationalsozialistische Verbrecher.

Vor allem als die Deutschen selbst die Verfahren übernahmen, kam es daher in einer Mehrheit der Verfahren zu Entlastungen.

Zwei Entwicklungen beschleunigten diese Vorgehensweise.

Zuerst die Notwendigkeit der „policy of postponement“, der Politik des Verschiebens: Vor einer gründlichen Säuberung vom Nationalsozialismus kam der unmittelbare Wiederaufbau, für den auch die Alliierten viele belastete Spezialisten benötigten.

Später führte der beginnende „Kalte Krieg“ zu einer Kehrtwende der Alliierten, die nun versuchten, die Deutschen als Verbündete für sich zu gewinnen.

Ähnliches passierte in Österreich, wo die „Entnazifizierung“ ab 1948 de facto endete.

Erst ab den 1960er Jahren und verstärkt mit der sogenannten „68er-Generation“ begann die Beschäftigung mit den Erinnerungen an die nationalsozialistischen Verbrechen.

Eine Erinnerungskultur, wie sie sich zum Beispiel durch das Holocaust-Mahnmal in Berlin (siehe Bild) zeigt, entstand in Deutschland erst weit danach.

Foto des Holocaust Mahnmals im Herbst
(michelangeloop/Shutterstock)

Die privaten Traumata wurden sogar erst viel später, ab den 1990er Jahren, ein gesellschaftliches Thema. Obwohl inzwischen erwiesen ist, dass sich diese trotz des Verschweigens psychologisch in den Familien fortsetzten.

Inhalt

Der „Stellamour-Plan“

„Morbus Kitahara“ spielt in einer Alternativwelt, in der der Zweite Weltkrieg in Europa durch den „Frieden von Oranienburg“ beendet wurde.

Gleichzeitig tobt der Krieg gegen Japan noch mehrere Jahrzehnte.

Die Siegermächte, die Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien und die USA haben im sogenannten „Stellamour-Plan“ die Demontage auf die Spitze getrieben und Deutschland in einen vorindustriellen Agrarstaat zurückverwandelt.

Auch wird die Erinnerungskultur an die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes stärker gepflegt. So ziehen Gruppen von Büßern durch das Land und die Besiegten müssen zahlreiche Erinnerungsorte anlegen.

Die Hauptfigur Bering wird am Ende des Krieges im Alpenort Moor geboren, der im Steinernen Meer und am Traunsee (siehe Bild aus der heutigen Zeit) liegt.

Foto des Traunsees
(Landscape Nature Photo/Shutterstock)

Der einst durch Kurhotels und den Steinbruch wohlhabende Ort leidet während seines Lebens nach wie vor unter den Kriegsfolgen.

Zum Beispiel haben die Siegermächte in seiner Kinderheit die einzige Bahnlinie nach Moor und das Wasserkraftwerk demontiert.

Das Motto des „Friedensbringers“ Lyndon Porter Stellamour „Zurück in die Steinzeit“ erfüllt sich danach alleine durch den steigenden Verschleiß der wenigen, nicht zu ersetzenden Maschinen.

Unaufhaltsam glitt Moor durch die Jahre zurück.

christoph Ransmayr: Morbus Kitahara

Auch die von den Siegermächten erzwungene Erinnerungskultur spielt in Moor eine große Rolle.

So hat der US-amerikanische Kommandant die Bewohner gezwungen, eine riesige Inschrift in den Berg zu schlagen.

„Hier liegen elftausendneunhundertdreiundsiebzig Tote. Erschlagen von den Eingeborenen dieses Landes. Willkommen in Moor.“

christoph Ransmayr: Morbus Kitahara

Viermal im Jahr lässt er die Einwohner Moors im Steinbruch antreten und Erinnerungsrituale über sich ergehen. So lässt er sie Szenen aus dem ehemaligen Konzentrationslager nachstellen.

Am Ende evakuieren die Besatzungsmächte die komplette Region zugunsten eines Truppenübungsplatzes.

Denn obwohl die Armee der Sieger alle Feinde geschlagen hat, braucht sie Übungsflächen für Kriege gegen zukünftige Feinde.

Die nie endende Vergangenheit

Als von Traumata verstörtes Kind wächst Bering in dieser Welt auf. Als Reaktion ahmt er zum Beispiel Verhaltensweisen von Hühnern nach.

Nachdem ein Bruder ausgewandert und ein anderer ertrunken ist, erbt er zwar die Schmiede seines Vaters, findet aber nur Arbeit als kleiner Dorfschmied und Bauer.

Auch muss er sich um seine vom Krieg traumatisierten Eltern kümmern: Seine Mutter flüchtet sich immer mehr in erzkatholische Frömmigkeit, seinen Vater lassen die Kriegserinnerungen aus dem Nordafrikafeldzug nie los.

Eines Tages muss Bering sich gegen Plünderer verteidigen und erschießt einen davon. Dieses Ereignis lässt ihn ebenfalls nie mehr los.

Doch sein Leben nimmt eine Wende, als er dem Verwalter des Steinbruchs, dem ehemaligen Konzentrationslager-Häftling Ambras – genannt der „Hundekönig“ – hilft, dessen Auto zu reparieren.

Dieser bemerkt das Talent des Schmieds für Mechanik und Maschinen.

Von Ambras bekommt Bering daher das Angebot, für ihn zu arbeiten und bei ihm zu wohnen. Auch lernt er durch ihn die Schmugglerin Lily, genannt die „Brasilianerin“, kennen.

Doch dann bekommt er eine mysteriöse Krankheit: Zuerst auf dem linken, dann auf dem rechten Auge bildet sich ein schwarzes Loch. Bering fürchtet sogar zu erblinden.

Dann stirbt seine Mutter und der erblindende, demenzkranke Vater versinkt komplett in seinen Kriegserinnerungen.

Als Bering seinen Vater mit Lily in die Stadt Brand bringt, stellt er fest, dass dort eine industrielle Gesellschaft existiert. Auch scheint die Erinnerungskultur hier nicht zu existieren.

Im Lazarett von Brand diagnostiziert ein Sanitäter endlich seine Krankheit: „Chorioretinis centralis serosa“ oder „Morbus Kithara“.

Diese im Roman vorkommende Krankheit wird durch zu starkes Starren auf einen Punkt (siehe Bild) ausgelöst.

Foto eines in die Kamera starrenden Mannes
(Dundanim/Shutterstock)

Als Bering danach nach Moor zurückkehrt, evakuiert die Armee die Region schon langsam.

Bering, Ambras und Lily finden sich schließlich mitsamt den Maschinen des Steinbruchs in Brasilien wieder.

Doch auch dort können sie ihrer Vergangenheit nicht entfliehen.

Rezension

Alternativwelt ohne Ankerpunkt

Die Alternativwelt von „Morbus Kitahara“ hat mit dem Bezug auf den „Morgenthau-Plan“ zwar einen Beginn.

Der Grund für die Umsetzung des „Stellamour-Plans“ am Ende des Krieges mit dem „Frieden von Oranienbaum“ bleibt aber unklar.

Der namensgebende Richter und Gelehrte Lyndon Porter Stellamour ist in jedem Fall fiktiv. Am ehesten erscheint er als eine Mischung aus Roosevelt und Morgentau.

Auch gibt es nur wenige Andeutungen über den Verlauf des Krieges.

So verweist die einmalig auftretende Band „Pattons Orchestra“ nicht nur auf die Rockbands der 1950er und 1960er Jahre, sondern auch auf General George S. Pattons 2. US-Panzerdivision und deren Motto „Hell on Wheels“.

Konkret werden nur einige Erinnerungen des Vaters von Bering an den Nordafrikafeldzug unter General Rommel (siehe Bild).

Foto von General Erwin Rommel in Afrika
(Everett Collection/Shutterstock)

Oder als der Sieg über Japan durch einen Atombombenabwurf auf Nagano gefeiert wird.

In den letzten Kapiteln findet immerhin der Oberbefehlshaber des brasilianischen Expeditionskorps in Europa während des Zweiten Weltkriegs, Mascarenhas de Moraes, Erwähnung.

Gescheiterte Erinnerungskultur

Mehr Raum als der historische Hintergrund nimmt in „Morbus Kitahara“ die Erinnerung beziehungsweise die Erinnerungskultur selbst ein.

Fast das ganze Werk von Christoph Ransmayr beschäftigt sich mit diesen Themen und der Roman kann als Gleichnis auf die Erinnerungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland sowie Österreich gesehen werden.

Am Ende dienen die brasilianischen Buschfeuer als Metapher.

Denn sie schwelen im Untergrund weiter, selbst wenn sie an der Oberfläche gelöscht erscheinen. Daher können sie jederzeit wieder ausbrechen und zur Gefahr für die Menschen werden.

Ähnlich verhält es sich mit den Erinnerungen der Protagonisten sowie der gesamten Gesellschaft in „Morbus Kitahara“.

Cover von Morbus Kitahara
(Eigenes Bild)

Zwar betreiben die US-Amerikaner einen enormen Aufwand, um die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen wach zu halten.

Ein Verweis auf die Widersprüche der „Entnazifizierung“ zeigt sich bei Berings Reise nach Brand: Im Gegensatz zu Moor blieb diese Stadt ohne Begründung nicht nur von den schlimmsten Demontagen verschont, sondern auch von der harten Erinnerungskultur.

Diese Bemühungen wirken auch zunehmend hohl und ineffektiv.

So müssen die Bewohner von Moor die Szenen aus dem Konzentrationslager nur als Bilder nachstellen und nicht das Leiden selbst. Und das auch nur unter Protest, solange die Besatzungsbehörden sie dazu zwingen.

Sogar die ehemaligen Gefangenen selbst kommen bei diesen Aktionen, ähnlich wie in der Erinnerung der „realen“ Nachkriegszeit nie selbst zu Wort.

Stattdessen verweigern die Protagonisten auf unterschiedlichen Wegen die Beschäftigung mit der verbrecherischen Erinnerung und der möglichen Reue.

Stellvertretend für die Generation der Beteiligten – und für die „reale“ Nachkriegsgeschichte – flüchtet die Mutter von Bering in die Religion, der Vater in die vermeintlich „ehrenhaften“ Kriegserinnerungen.

Für das Verdrängen der belastenden Erinnerung steht Lilys Mutter, die ein Foto des verschollenen Vaters in SS-Uniform auf einem Bild durch eine Tracht übermalt.

Auch der ehemalige Häftling Ambras kommt nie von seiner Vergangenheit im Konzentrationslager los. Er lebt als „Hundekönig“ mit seinen Tieren im „Zwinger“ einer requirierten Villa nahe seines ehemaligen Lagers.

Zuletzt werden auch die Nachgeborenen wie Bering und Lily von den Traumata des Krieges, der sich in „Morbus Kitahara“ quasi durch die Nachkriegszeit verlängert, nicht verschont.

So fühlt sich Bering bei Vögeln und Maschinen wohler als bei den traumatisierten Menschen. Lily dagegen schwärmt immer von Brasilien als ihrem Traumland, in das ihre Eltern nach Kriegsende flüchten wollten.

Passend dazu wird für die im Roman nicht ganz korrekt beschriebene Krankheit „Morbus Kitahara“ als Ursache ein zu starkes „Starren“ auf einen Punkt diagnostiziert.

So endet der Roman erst mit der Zerstörung des Ortes Moor und einer vermeintlich neuen Zukunft in Brasilien.

Da sich die Protagonisten aber immer noch nicht ihrer Vergangenheit stellen können, verfolgt sie diese bis zum Ende.

Daher empfehle ich „Morbus Kitahara“ von Christoph Ransmayr zwar als Alternative History Roman nicht, aber als komplexe Geschichte über Erinnerung sehr.

Quellen und Literatur

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