Für die historische Altstadt von Regensburg gab es bis in die 1970er Jahre umfangreiche Pläne. Unter dem Begriff der „autofreundlichen Altstadt“ sollten die historischen Viertel bis zur Aufgabe der Planungen im Jahr 1978 umfangreich verändert werden. Doch was wäre gewesen, wenn diese Pläne weiter verwirklicht worden wären?
Ankerpunkt
Regensburg nach dem Zweiten Weltkrieg
Regensburg war im Zweiten Weltkrieg durch Zufälle nicht so stark bombardiert worden. Daher hatte die mittelalterliche Altstadt (siehe Bild unten) die Kämpfe ohne große Schäden überstanden.
Doch in der Nachkriegszeit galt sie als dringend sanierungsbedürftiger Schandfleck. So fehlte es in vielen baufälligen Wohnungen an grundsätzlicher Infrastruktur, beispielsweise für die tägliche Hygiene.
Zudem waren die engen mittelalterlichen Gassen bereits seit dem 19. Jahrhundert für den stetig wachsenden Verkehr zum Problem geworden.
Daher gab es seit dem Zeitalter der Industrialisierung verschiedene Lösungsvorschläge von Stadtplanern, die den Abbruch von alten Gebäuden vorsahen. Da dies aber auf den hartnäckigen Widerstand von Denkmalschützern traf, wurden die großen Pläne bis zum Zweiten Weltkrieg nicht verwirklicht und nur wenige Gebäude abgerissen.
Andere Vorhaben, zum Beispiel das Schaffen einer „Domfreiheit“ aus freien Plätzen rund um den Regensburger Dom oder der Abbruch der Steinernen Brücke zugunsten einer moderneren Version, scheiterten aus anderen Gründen.
Die „autofreundliche Altstadt“
Anders lag der Fall bei den Sanierungsplänen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Diese sollten „endlich“ massiv in das Stadtbild von Regensburg eingreifen.
Im Vordergrund stand die Prämisse der „autofreundlichen Altstadt“. Auf Basis der Charta von Athen 1933 war der Hauptgedanke, dass der Zugang von motorisiertem Individualverkehr für die wirtschaftliche Entwicklung einer Stadt „lebenswichtig“ sei.
Dabei sollte ein gut ausgebautes Straßennetz mit vielen Parkplätzen die Altstadt als Einkaufs- und Verwaltungsmittelpunkt schnell erreichbar machen. Damit sollte sich Regensburg als Oberzentrum für Ostbayern weiter etablieren.
Daher kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zur Vorbereitung der verschiedenen Pläne zu ersten Bau- und Abbruchmaßnahmen im heutigen Welterbe, zum Beispiel an der Donau beim heutigen Museum der bayerischen Geschichte.
Deshalb sah 1948 der Regierungsbaumeister Rudolf Eichhorn in einem Generalverkehrsplan erste „Aufschließungsstraßen“ durch die Altstadt vor.
1961 forderte der Verkehrsplaner Karl Leibbrand, den Altstadtkern als Geschäftszentrum zu erhalten und dazu mittels breiter Straßen von Norden nach Süden (heute Doktor-Martin-Luther-Straße) sowie von Osten nach Westen (südlich der heutigen Gesandtenstraße oder am Donauufer) zu „durchstoßen“. Für diese Achsen und einen großen Parkplatz beim alten Rathaus sollten mehrere Gebäude abgerissen werden.
Ein Straßenverkehrsplan fasste 1963 die vorhandenen Ideen und Pläne zusammen. Er sah für die historischen Viertel neben einem inneren und äußeren Straßenring auch eine Nord-Süd- sowie eine Ost-West-Achse vor, um eine Anbindung an die Autobahnen zu erreichen. Mehrere Donaubrücken zur Altstadt sowie ein System aus Tiefgaragen und Parkhäusern sollten die schnelle motorisierte Erreichbarkeit der Altstadt gewährleisten.
Krönung und Symbol der Pläne wäre die vier- bis sechsspurige Bayerwaldbrücke von Stadtamhof zur Altstadt (siehe Bild unten) gewesen. Zusätzlich wäre die Doktor-Martin-Luther-Straße untertunnelt worden, da sonst die Infrastruktur dem Verkehr nicht mehr gewachsen gewesen wäre.
Von Süden wiederum hätte nach den ursprünglichen Plänen die heutige Autobahn A93 direkt vom Universitätsgelände in die Stadt hineingeführt.
Auch die Steinerne Brücke, heute mit dem Dom als Panorama das Wahrzeichen der Altstadt, sollte zeitweise autogerecht verbreitet werden. Bis 1997 fuhren auf ihr noch Autos, bis 2008 Busse und Taxis.
Widerstand und Ende der Pläne
Erst Anfang der 1970er Jahre flossen nicht nur mehr Mittel für eine denkmalgeschützte Sanierung von Gebäuden.
Auch und vor allem erster Widerstand von verschiedenen Bürgerinitiativen, zum Beispiel der 1966 gegründeten Vereinigung Freunde der Altstadt Regensburg e.V. (Altstadtfreunde), sorgte für ein Umdenken. Zum Beispiel führte das erste Bürgerfest 1973 zum Gesinnungswandel vieler Bürgerinnen und Bürger über den Stellenwert ihrer Altstadt.
Parallel dazu richtete die Stadtverwaltung erste Fußgängerzonen ein, die zu einer Neudefinition der Altstadt und deren Funktionen für die Regensburger Bevölkerung führten.
So kam es bereits 1974 zu einer Abschwächung des Straßenausbaus durch einen neuen Straßenverkehrsplan. Aber erst 1978 wurden die Pläne für die Bayerwaldbrücke endgültig auf Eis gelegt.
Da es bereits Vorarbeiten gab, weist die heutige (2023) Straßenführung von Regensburg noch Spuren der „autofreundlichen Altstadt“ auf. So enden mehrere breite Straßen (auf der Karte unten in Rot) abrupt vor der Altstadt, da die Pläne vorher gestoppt wurden.
Die parallel einsetzende denkmalgerechte Sanierung der Regensburger Altstadt ist bis heute keine abgeschlossene Aufgabe. Da entsprechende Pläne und ihre Umsetzung sehr aufwendig sind, dauert der gesamte Prozess bereits 50 Jahre an.
Auch ist der Status der Altstadt, die seit 2006 Welterbe ist, immer wieder Gegenstand von Diskussionen in der Stadtgesellschaft. Beispielhaft dafür stehen mehrere durch Bürgerbegehren verhinderte Pläne, am Rand des historischen Viertels ein Kultur- und Kongresszentrum zu bauen.
Szenario
In einem Workshop gemeinsam mit dem Welterbe Regensburg bearbeiteten zwei Gruppen das Szenario. Der Workshop fand am 03. Juni 2023 zur Frage „Was wäre gewesen, wenn die Pläne der „autofreundlichen Stadt„ in Regensburg durchgeführt worden wären?“ statt. Erstmal wurde dabei die Methode des Ankerpunkte Alternative History Canvas verwendet.
Was wäre gewesen, wenn das erste Bürgerfest gescheitert wäre?
Die Gruppe 1 hatte sich das erste Bürgerfest 1973 als Ankerpunkt ausgesucht und stellte dazu folgende Fragen:
- Was wäre, wenn das erste Bürgerfest gescheitert wäre, zum Beispiel aus Desinteresse der Bevölkerung, Widerstand der städtischen „Obrigkeit“ oder unvorhergesehenen Ereignissen?
- Wäre die Bürgerbewegung daraufhin gegen die „autofreundliche Altstadt“ gescheitert?
- Inwieweit wäre die „autofreundliche Altstadt“ dann Realität geworden?
Als unrealistische Entwicklung konnte die Gruppe 1 zumindest ausschließen, dass der Kern der Altstadt mit dem Dom und zahlreichen Kirchen abgerissen worden wäre. Auch ein noch stärkeres Wachstum eines „autofreundlicheren“ Regensburgs als in der „realen“ Entwicklung sah die Gruppe 1 als unwahrscheinlich.
Das alternativgeschichtliche Szenario folgte dem gescheiterten Bürgerfest, durch das sich die gesellschaftliche Entwicklung in Regensburg verzögerte.
Infolgedessen wurden große Teile der „autofreundlichen Altstadt“ umgesetzt, zum Beispiel die Bayerwaldbrücke und ein äußerer Straßenring um die Altstadt.
Die weiteren Abrisse mobilisierten jedoch neue Betroffene, die eine weitere Bürgerbewegung gegen die Straßenausbaupläne initiierten.
Die „autofreundliche Altstadt“ hatte davor jedoch weitere Folgen. So blieben viele archäologische Funde durch den schnellen Ausbau unentdeckt und die geschrumpfte Altstadt entwickelte nicht die Magnetfunktion für den Tourismus.
Die breiten Straßentrassen hätten aber den Vorteil, dass der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs in Regensburg bis in die heutige Zeit einfacher zu bewerkstelligen wäre.
Als Erkenntnis zog die Gruppe 1 (siehe Bild unten) aus ihrem Szenario, dass gesellschaftliche Bewegungen ihren Wert für politische Entscheidungen haben. Zum Beispiel bei der Sensibilisierung der Bevölkerung für den Wert historischer Gebäude.
Zur weiteren Forschung empfahl die Gruppe 1 die Verwurzelung der Bürgerbewegung in der damaligen Stadtgesellschaft und daraus folgend deren Einfluss auf die Stadtpolitik zu untersuchen. Damit ließe sich die Frage, welche Rolle das erste Bürgerfest – und deren Nachfolger – für das Ende der „autofreundlichen Altstadt“ spielte, besser nachvollziehen.
Zudem stellte die Gruppe 1 noch die Nachfrage, welchen Einfluss das Ende der Regensburger Straßenbahn in den 1960er Jahren auf die Konzepte zur „autofreundlichen Altstadt“ hatte.
Was wäre gewesen, wenn die Universität Regensburg später gegründet worden wäre?
Die Gruppe 2 fokussierte sich auf den Einfluss der 1962 gegründeten Universität Regensburg in Bezug auf die „autofreundliche Altstadt“. Denn die zumeist auswärtigen Akademiker waren in den Bürgerinitiativen gegen den Straßenausbau stark vertreten.
Als unrealistische Entwicklung konnte die Gruppe 2 ausschließen, dass die Gründung der Universität Regensburg gar nicht stattgefunden hätte. Dabei kam sie auf die Unterfrage, welche Rolle die zuerst aufgebauten natur- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten spielten.
Als Wunschdenken identifizierte die Gruppe anschließend, dass die alteingesessenen Regensburger alleine erfolgreich gegen den Straßenausbau protestiert hätten.
Im alternativgeschichtlichen Szenario hatte die spätere Gründung der Universität große Folgen. So hätte Regensburg zum Beispiel nur einen kleinen Hochschulstandort, wie aktuell Straubing.
Auch wären die Pläne der „autofreundlichen Altstadt“ stärker umgesetzt worden, weshalb Regensburg danach eher im Krieg mehr zerstörten und in der Nachkriegszeit neu aufgebauten Städten ähneln würde, beispielsweise Ludwigsburg oder Würzburg.
Die Altstadt mit Stadtamhof hätte eine andere Rolle eingenommen: Ohne Welterbe hätte sie weniger Touristen angelockt, weshalb die Viertel mit mehr Leerstand zu kämpfen hätten und weniger Cafés das Straßenbild prägen würden. Damit hätte auch die vorhandene Industrie in Regensburg eine größere Rolle in der lokalen Wirtschaftsstruktur inne.
Der Trend zur „autofreien Altstadt“ wäre ebenfalls später gekommen. Daher wären die ausgebauten Straßen danach entweder zu groß und unbrauchbar gewesen. Im positiven Falle wären sie eventuell groß genug, um in Regensburg ein Verkehrschaos durch das Bevölkerungswachstum zu vermeiden.
Als wissenschaftliche Erkenntnis sah die Gruppe 2 vor allem zwei Dinge.
Erstens den Einfluss, den die zumeist auswärtigen Akademiker auf die „reale“ Stadtentwicklung hatten.
Zweitens den Funktionswandel, den die Altstadt in dieser Zeit durchmachte und immer noch durchmacht. Das bündelte die Gruppe in der Zustandsbeschreibung „nur schön reicht nicht“. Denn die wachsende Stadt Regensburg basiert nicht nur auf einer für Touristen „schönen“ Altstadt.
Für die weiteren Forschungen empfahl die Gruppe 2 (siehe Bild unten), die Interessenlage rund um die „autofreundliche Altstadt“ zu erkunden. Zum Beispiel welche „Gegenbewegungen“ es zu den Bürgerbewegungen gab, welche konkreten Beweggründe und Interessen hinter den Ausbauplänen standen und wann die Stimmung in der Stadtgesellschaft gekippt ist.
Zuletzt empfahl die Gruppe 2, sich die städtebauliche Entwicklung in Städten ähnlicher Größe, die im Zweiten Weltkrieg ebenfalls weniger zerstört worden waren, zum Beispiel Rothenburg ob der Tauber oder Passau, anzusehen und diese mit Regensburg zu vergleichen.
Dieses Szenario und seine Unterfragen sind in ständiger Entwicklung und werden in Zukunft weiter ausgebaut.
Quellen und Literatur
- Workshop gemeinsam mit dem Welterbe Regensburg am 03. Juni 2023 unter Verwendung des Ankerpunkte Alternative History Canvas.
- Diskussionen in der Facebook-Gruppe „Regensburg damals“
- Tobias Appl, Alfred Wolfsteiner (Hrsg.): Auf alten Wegen durch die Oberpfalz. Zur Geschichte der Mobilität und Kommunikation in der Mitte Europas. (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Oberpfalz 3). Regensburg 2022.
- Matthias Freitag: Regensburg. Kleine Stadtgeschichte. Regensburg 2016.
- Stadt Regensburg: Alte Stadt und moderner Verkehr. Konflikte und Konzepte aus drei Jahrhunderten. Regensburg 2020.
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