Was wäre gewesen, wenn das Attentat von Sarajevo nicht den Ersten Weltkrieg ausgelöst, sondern nie stattgefunden hätte? Vielleicht würde 1988 das Deutsche Kaiserreich mit seinen Zeppelinen und Pickelhauben noch immer bestehen. Eine solche Alternativwelt mit viel Tiefgang und noch mehr Eastereggs beschreibt Oliver Henkel in seinem zweiten Roman.

Ankerpunkt

Am 28. Juli 1914 ermordete der serbische Nationalist Gavrilo Princip in Sarajevo den Thronfolger von Österreich-Ungarn, Franz Ferdinand, und dessen Frau. Dieses Attentat löste durch die verschiedenen Bündnisverpflichtungen der europäischen Mächte den Ersten Weltkrieg aus und beendete die „Belle Epoque“ des langen 19. Jahrhunderts.

Ebenso führte das Attentat und der darauf folgende Erste Weltkrieg zum Ende des seit 1871 existierenden Deutschen Kaiserreichs und seiner Gesellschaft. Es bestand bis dahin als Bundesstaat aus vier Königreichen, sechs Großherzogtümern, fünf Herzogtümern, sieben Fürstentümern, drei freien Städten und dem Reichsland Elsaß-Lothringen (siehe Karte).

Karte des Deutschen Reiches von 1871 bis 1918.
(Wikimedia Autor: ziegelbrenner/CC BY-SA 3.0)

Prägend für den ersten deutschen Nationalstaat war vor allem das Militär mit dem Kaiser an Spitze. Dessen Porträt war überall – nicht nur in Ämtern und Schulen – zu finden. Auch sein Geburtstag wurde jedes Jahr im ganzen Reich prächtig gefeiert.

Hinzu kam der konservative Adel als bestimmende Kraft in allen Teilen der Gesellschaft. Die Werte für die Untertanen waren: Ordnung, Disziplin, Vaterlandsliebe. Eine Zeit, die die Affäre des „Hauptmann von Köpenick“ wie eine Satire wirken lässt, die aber 1914 bereits in Auflösung ist. Erst die Krisenjahre ab dem Ersten Weltkrieg machen daraus für viele „die gute alte Zeit“.

Inhalt

Bei Oliver Henkel ist diese Zeit nach einer ereignislosen Reise von Franz Ferdinand 1914 noch sehr lebendig: 1988 herrscht Kaiser Wilhelm V. über das Deutsche Reich und seine Kolonien.

Reisen, zum Beispiel in die Kolonien in Afrika und in den Pazifik, geschehen vor allem mit der Eisenbahn und dem Zeppelin. Flugzeuge werden fast nur bei der kaiserlichen Luftwaffe verwendet.

Pickelhaube und Militärparaden prägen das Stadtbild auch in Hamburg, wo die Besuche des Monarchen als „Kaisertage“ einen gesellschaftlichen Höhepunkt bilden.

Auf internationaler Ebene stehen sich nach wie vor die Entente aus Großbritannien, Frankreich und Russland sowie der Dreibund aus dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Italien gegenüber, während die USA nur eine Großmacht auf dem eigenen Kontinent darstellen.

Cover von Kaisertag mit Pickelhaube.
(Eigenes Bild)

In Hamburg arbeitet der ehemalige Offizier Friedrich Prieß als Privatdetektiv. Die Aufklärung eines Mordes führt ihn aber in die Freie und Hansestadt Lübeck.

Dort stoßen Reformbestrebungen einzelner Verantwortlicher nach wie vor auf Widerstand der Autoritäten. Gleichzeitig steht der Besuch des neuen Kaisers in der Stadt, quasi der Lübecker Kaisertag, an.

Doch Prieß stößt vor diesem Hintergrund nicht nur auf rätselhafte Vorfälle in der kaiserlichen Armee, sondern auch auf seine eigene Vergangenheit. Schlussendlich findet er sich in einem Machtkampf wieder, der das Deutsche Reich von 1988 in seinen Grundfesten erschüttert.

Rezension

Oliver Henkel erschuf in seinem zweiten Roman ein Deutsches Reich und Lübeck des Jahres 1988, das noch tief von den Traditionen des preußischen Kaisertums durchdrungen ist.

Der gebürtige Lübecker entwickelte mit „Kaisertag“ eine sehr lebendige Alternativwelt, in die ich gerne eingetaucht bin. Vor allem deshalb war es für mich ein Quantensprung im Vergleich zu „Die Zeitmaschine Karls des Großen“.

Vor allem die Charaktere hatten in diesem Roman erheblich mehr Tiefgang. Zahlreiche Anspielungen auf Personen der „echten“ Zeitlinie, wie Loriot, Helmut Schmidt oder einer der berühmtesten Lübecker als Eastereggs werteten den Roman sehr auf.

Auch die Handlung und die Lösung des Falles waren dieses Mal teilweise sehr spannend und unvorhersehbar. Nur die Auflösung für die Entstehung der Alternativwelt und den Machtkampf von „Kaisertag“ erschien mir unrealistisch.

In jedem Fall hatte der Roman verdient den deutschen Science-Fiction-Preis 2003 gewonnen.

Quellen und Literatur

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