In diesem Klassiker der Alternative History Literatur endete der Zweite Weltkrieg mit einem Sieg der Achsenmächte. 1962 sind die USA ein zwischen dem Deutschen Reich und Japan geteiltes Land.

Ankerpunkt

Der Zweite Weltkrieg gilt nicht umsonst als einer der beliebtesten Alternative History Themen. Besonders die Frage, unter welchen Umständen die Nationalsozialisten und ihre Verbündeten den Krieg hätten gewinnen können, wird heftig diskutiert.

Philip K. Dick deutet in „Das Orakel vom Berge“ nur an, wo er die Ankerpunkte für seine Alternativwelt sieht.

Der eine ist ein im deutschsprachigen Raum kaum bekanntes Attentat auf den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt (siehe Bild). Am 15.02.1933 versuchte Giuseppe „Joe“ Zangara, den neu gewählten Präsidenten während einer Wahlkampfrede zu erschießen. Zangara scheiterte, auch wenn durch seine Schüsse vier Menschen starben.

Außenansicht des Franklin Delano Roosevelt Memorial in Washington DC
(Vacclav/Shutterstock)

So konnte Roosevelt nicht nur die Bekämpfung der „Großen Depression“ mithilfe seines „New Deal“ Konzeptes angehen. Mit seinen Wiederwahlen 1936, 1940 und 1944 rüstete er auch gegen die expandieren Achsenmächte auf und unterstütze vor allem Großbritannien stark. Der Kriegseintritt der USA nach dem Überfall auf Pearl Harbor 1941 leitete wiederum die Wende des Krieges ein.

Der andere Ankerpunkt findet 1940 während der Luftschlacht um England statt. Diese stand zeitweise für die Royal Air Force auf des Messers Schneide, da sie zu wenig ausgebildete Piloten hatte.

Als Verteidiger der Britischen Inseln gegen eine deutsche Invasion hatte sie jedoch den Vorteil der geringen Anflugzeit. Während die deutsche Luftwaffe erst von Frankreich kommend den Ärmelkanal überqueren musste, starteten die britischen Piloten von ihren Basen in England.

Diesen Vorsprung verstärkte noch das neuartige Radarsystem an der Küste. Dieses erlaubte der Royal Air Force eine schnelle und gezielte Reaktion auf die angreifenden Deutschen.

Zuletzt begann die deutsche Luftwaffe ab Anfang September auf Anweisung von Adolf Hitler die britische Hauptstadt London zu bombardieren (siehe Bild), anstatt weiter die angeschlagenen Basen der Royal Air Force anzugreifen.

Schwarz-weiß Foto des ersten deutschen Luftangriffs auf London im Zweiten Weltkrieg
(Everett Collection/Shutterstock)

Philip K. Dick nutzt nun Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, als Deus ex machina. Dieser überredet Adolf Hitler, statt London die britischen Radarstationen anzugreifen.

Danach erfolgen nur noch Andeutungen über den weiteren Verlauf der Geschichte in der Alternativwelt. So gibt es keine Erklärung, warum sich die durchaus grausame japanische Kriegspolitik in „Das Orakel vom Berge“ zu einer wohlwollenden Besatzung entwickelt hat.

Inhalt

„Das Orakel vom Berge“ spielt in einem größtenteils von den Japanern und Deutschen aufgeteilten Vereinigten Staaten. Die meisten Kapitel finden in den japanisch besetzten und durch Kollaborateure regierten „Pazifischen Staaten von Amerika“ statt, vor allem in San Francisco. Nur die Kapitel um Juliana Frank laufen in den neutralen „Rocky Mountain Staaten“ ab.

Eine grobe Schätzung der Alternativwelt von „Das Orakel vom Berge“ bietet die folgende Karte. Die rötlich bis orange gehaltenen Landstriche gehören zur japanischen Einflusssphäre, die bräunlichen Gebiete gehören zum Deutschen Reich.

Grafik für die Weltkarte aus "Das Orakel vom Berge"
(Wikimedia Autor: RobintheHighCastle/CC BY-SA 4.0)

Zwischen den handelnden Personen ergeben sich im Buch selten direkte Überschneidungen in den einzelnen Abschnitten. Sie sind aber bereits vor der Start durch Beziehungen miteinander verbunden.

Das „Orakel vom Berge“ startet mit dem Antiquitätenhändler Robert Childan. Er verkauft Gegenstände der alten amerikanischen Kultur an interessierte Japaner. Dabei muss er aber feststellen, dass immer mehr Fälschungen auftreten. Gleichzeitig ringt er mit seiner Identität als Amerikaner gegenüber den von ihm anfangs bewunderten Japanern.

Zeitgleich eröffnet Frank Frink nach seiner Entlassung ein eigenes Geschäft, indem er Schmuck selbst produziert. Er und sein Partner möchten ihre Ware unter anderem an Childan verkaufen. Viel wichtiger für ihn ist aber, seine jüdische Herkunft zu verbergen. Dieser Fall würde zu seiner Auslieferung an die deutsch besetzten Vereinigten Staaten und seinem Tod führen.

Einer der Kunden von Childan ist der japanische Offizielle Nobusuke Tagomi. Als Vertreter der mächtigen Handelsmission erhält er Besuch durch einen schwedischen Vertreter, der sich schnell als etwas anderes herausstellt. So gerät er in internationale Verwicklungen, als im Dritten Reich der Reichskanzler Martin Borman stirbt und dort Machtkämpfe ausbrechen.

Zuletzt kommt mit Juliana Frank die Ex-Frank von Frank ins Spiel, die inzwischen in den neutralen Rocky Mountain States lebt. Sie gerät durch einen angeblichen italienischen Lastwagenfahrer auf die Spur des Buches „Die Plage der Heuschrecke“ und dessen Autor. Dieses Werk sorgt in der Alternativwelt für Furore unter den Lesern. Denn es behauptet, dass der Sieg der Deutschen und Japaner im Zweiten Weltkrieg nicht alternativlos war.

Rezension

„Das Orakel vom Berge“ gilt nicht nur als eines der größten Science-Fiction- Werke der 1960er Jahre.

Sondern auch neben Robert Harris „Vaterland“ als einer der großen Klassiker der Alternative History Literatur.

Buchcover von "Das Orakel vom Berge"
(Eigenes Bild)

Diese Zuschreibung trägt das Buch meiner Meinung nach zu Recht:

Erstens beschreibt es seine Alternativwelt sehr dicht und anschaulich. Diese stellt eine Art Gleichnis zur „realen“ Geschichte dar.

Die amerikanische Kultur in den Pazifikstaaten löst sich zum Beispiel immer mehr zugunsten der japanischen auf. Ähnlich wurde nach dem „realen“ Zweiten Weltkrieg die deutsche und japanische Kultur durch die US-amerikanischen Besatzer beeinflusst. Dieses Gleichnis führt auch zu einem Bruch mit klassischen Heldenromanen, da es keine Spur eines wie auch immer gearteten US-Widerstands gibt.

Zugleich finden sich in der Alternativwelt der 1960er Jahre Elemente der Science-Fiction aus der „realen“ Vor- und Nachkriegszeit. So gibt es statt Flugzeugen deutsche Raketenschiffe. Die Nationalsozialisten haben außerdem das Mittelmeer trocken gelegt und machen sich an die Eroberung des Sonnensystems.

Zweitens sind die Charaktere sehr gut entwickelt und vielschichtig. Viele Absätze spielen quasi nur im Kopf der Personen und beschäftigen sich mit deren Gedanken und Einstellungen. Besonders realistisch ist aus meiner Sicht, dass jeder Charakter in seiner eigenen Welt lebt und nur sporadisch mit den anderen verbunden ist.

Diese grüblerischen Charaktere sind auch keine strahlenden Helden. Childan ist Rassist und gleichzeitig nur daran interessiert, bei den Japanern positiv aufzufallen. Frank Frink ein unsicherer Opportunist, der seiner Ex-Frau noch immer hinterhertrauert. Juliana Frink kann nie alleine sein, hat aber Angst vor Männern. Tagomi wirkt oftmals unbeteiligt und kommt erst am Schluss einem Heldenstatus am nächsten.

Drittens und damit aus meiner Sicht der Hautgrund: Philip K. Dick stellt in „Das Orakel vom Berge“ große Fragen.

Zum einen die nach Wirklichkeit beziehungsweise Wahrheit vor dem Hintergrund von Gerüchten, Erzählungen und (Halb-)Wahrheiten. Eine Diskussion, die im Jahr 2020 mit seinen Fake News und Filterblasen auf einmal wieder sehr aktuell wirkt.

Dazu verwendet er vielfältige Verschachtelungen zwischen den Charakteren und deren Einstellungen sowie verschiedenen Gegenständen, die beides beeinflussen. Als Beispiel dafür gelten vor allem die Zeugnisse der verschwindenden amerikanischen Kultur, bei denen unklar ist, ob sie Fälschungen sind oder nicht.

Die größte Verschachtelung in Sachen Wirklichkeit stellt aber mit „Die Plage der Heuschrecke“ das Buch im Buch dar. Ähnlich, wie sich der „reale“ Leser die Frage stellt, wie realistisch der Sieg der Deutschen und Japaner im Zweiten Weltkrieg war, stellen sie sich Leser in „Das Orakel vom Berge“ die Frage, wie realistisch deren Niederlage war.

Zum anderen beschäftigt sich die Geschichte mit dem Thema der Treiber von geschichtlichen Entwicklungen und dem Spielraum von einzelnen Personen vor deren Hintergrund.

Denn wie viel Macht hat der Einzelne und welche Rolle spielt sein Wille während der großen geschichtlichen Entwicklungen. Hier sind wir auf einmal wieder bei den großen Fragen der Geschichte und der Geschichtswissenschaft.

So ist bezeichnend, dass mehrere Charaktere das chinesische Orakelbuch „I Ging“ zur Entscheidungsfindung nutzen und hilflos agieren, wenn sie darauf keinen Zugriff haben.

Auch bleibt am Ende offen, welchen Einfluss die Entscheidungen der Charaktere wirklich hatten. Der Abschluss des Buches wirkt eher wie eine Atempause in den großen Entwicklungen, denn wie ein End- oder Ausgangspunkt für komplett neue Trends.

Aus meiner Sicht entscheidend sind vor allem die Kapitel, in denen die alternative Handlung von „Die Plage der Heuschrecke“ erklärt wird. Zuerst erklärt ein Protagonist, wie unrealistisch dieses Szenario wäre, da der japanische Sieg im Zweiten Weltkrieg unvermeidbar war.

Eine weitere literarische Satire auf den historischen Determinismus („Geschichte musste sich zwangsläufig so entwickeln, wie sie passiert ist“) ist die quasi utopische Nachkriegszeit des Buches im Buch. In diesem Szenario versorgen die US-Amerikaner die ganze Welt mit kostenloser Bildung via Fernseher und die Rassentrennung endete durch den Zweiten Weltkrieg vollständig.

So wirkt auf einmal die „reale“ Welt neben den Alternativwelten von „Das Orakel vom Berge“ und „Die Plage der Heuschrecke“ als nicht mehr als die damals beste Gegenwart.

Ich empfehle das Buch in jedem Fall weiter, auch für Leserinnen und Leser, die keine Fans von Alternative History sind. Aus meiner Sicht ergibt sich als Fazit des Buches nämlich eine interessante Synthese beider großer Fragen:

Menschen haben in der Geschichte alleine dadurch Macht, indem sie entscheiden, was sie als real oder wirklich akzeptieren. Sei es, welchen Wert und Einfluss, sie Gegenständen und Erzählungen zubilligen. Sei es, wann sie sich entschließen, aus freiem Willen zu handeln oder passiv zu bleiben.

Oder wie es am Ende einer der Nebencharaktere ausdrückte:

Wir können bloß hoffen, dachte er. Und uns bemühen.

Das Orakel vom berge

Quellen und Literatur

  • Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge. München 2000.
    2017 erschien eine Auflage in der Fischer Taschenbibliothek Thalia Button

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