Was wäre gewesen, wenn die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten? In diesem Klassiker der Alternative History liefert Robert Harris eine beklemmende Alternativweltgeschichte.

Ankerpunkt

Die Wannsee-Konferenz

Am 20. Januar 1942 kam es im damaligen Gästehaus der SS am Großen Wannsee (siehe Bild) zu einer berühmt-berüchtigten Konferenz. Sie sollte ursprünglich bereits im Dezember 1941 stattfinden, war aber wegen des japanischen Angriffs auf Pearl Harbor verschoben worden.

Foto der Villa am Großen Wannsee
(carol.anne/Shutterstock)

Ziel war es, „über mit der Endlösung der Judenfrage zusammenhängende Fragen“ zu diskutieren und zu entscheiden.

Zwar waren zu dieser Zeit bereits erste Vernichtungslager, zum Beispiel in Kulmhof, in Betrieb und Hunderttausende den mobilen Mordkommandos der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen.

Die hochrangige Staatssekretärsbesprechung unter Führung des zweiten Mannes der SS, Reinhard Heydrich, sollte aber eine „Parallelisierung der Linienführung“ erreichen.

Damit war ein Verwaltungskonsens in den Detailfragen des Holocausts gemeint, um diesen effizienter durchführen zu können.

Zudem sollte die SS die Federführung in der „Endlösung der Judenfrage“ übernehmen. Dabei ging es nicht um die prinzipielle Frage des Holocausts, sondern um Verwaltungsfragen.

Im Gegensatz zur Vergangenheit wird der Konferenz zwar eine zentrale Rolle im Holocaust zugebilligt.

So begannen nach ihr große Mordaktionen wie die „Aktion Reinhardt“ unter Odilo Globocnik, dem SS- und Polizeiführer des Besatzungsdistrikts Lublin. Dabei ermordeten die Nationalsozialisten bis Ende 1942 insgesamt 1,274 Millionen Menschen.

Sie gilt aber nicht mehr als Beginn oder Auslöser des Holocausts.

Was die Konferenz dennoch besonders machte, waren die hochrangigen Teilnehmer aus Reichsministerien, SS und NSDAP.

Zudem hat sich von der Wannsee-Konferenz ein Exemplar des geheimen Protokolls erhalten.

Es überstand die Vernichtungsaktionen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und geriet nach 1945 in die Hände der Alliierten.

Trotzdem wurden nach Kriegsende nicht alle Beteiligten belangt. So lebten drei Teilnehmer der Konferenz bis zu ihrem Tod in den 1980er Jahren relativ unbehelligt in der Bundesrepublik Deutschland.

Immerhin ist die Villa am Wannsee seit 1992 offiziell „Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz“.

Die „Maschinenmenschen“ des Dritten Reiches

Die im Nachkriegsdeutschland lange verbreitete These, dass der Holocaust quasi nur in der Verantwortung von Adolf Hitler und seiner engsten Clique lag, ist mittlerweile längst als Schutzbehauptung entlarvt.

Münze mit dem Bild von Adolf Hitler und dem Motto "Unser die Zukunft Adolf Hitler"
(Sytilin Pavel/Shutterstock)

Gerade die Wannsee-Konferenz zeigt dies aus zwei Gründen.

Erstens zeigte die Ausgangslage der Zusammenkunft, dass für die Durchführung des Holocausts kein zentraler Befehl notwendig war.

Die Ideologie des nationalsozialistischen Antisemitismus war 1942 so tief in die Organisationen, Behörden und Ministerien des Deutschen Reiches eingedrungen, dass sich zahlreiche Initiativen mit der Vernichtung der Juden, zum Beispiel durch Deportation nach Madagaskar, beschäftigten.

Zweitens fand sich unter den Teilnehmern der Konferenz niemand aus der damaligen ersten Garde des Dritten Reiches.

Bis auf den SS-Vertreter Reinhard Heydrich bestand die Konferenz aus hochrangigen Beamten aus Reichsministerien sowie den Vertreter nationalsozialistischer Organisationen.

Konkret waren es folgende 15 Männer:

  1. Dr. Josef Bühler, Staatssekretär bei der Regierung des Generalgouverneurs in Krakau
  2. Adolf Eichmann, Leiter Referat IV B4 im Reichssicherheitsamt
  3. Dr. Roland Freisler, Staatssekretär im Reichsjustizministerium
  4. Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, amtierender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren
  5. Otto Hofmann, Chef des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes
  6. Dr. Gerhard Klopfer Ministerialdirektor in der Partei-Kanzlei der NSDAP
  7. Wilhelm Kritziger, Ministerialdirektor in der Reichskanzlei
  8. Dr. Rudolf Lange, Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes
  9. Dr. Georg Leibbrandt, Ministerialdirektor im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete
  10. Martin Luther, Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt
  11. Dr. Alfred Meyer, ständiger Vertreter des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete
  12. Heinrich Müller, Chef Amt IV Gestapo
  13. Erich Neumann, Staatssekretär im Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan
  14. Dr. Eberhard Schöngarth, Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes
  15. Dr. Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Reichsinnenministerium

Neben später bekannten Namen wie Reinhard Heydrich, Adolf Eichmann oder Roland Freisler bestand der Rest vor allem aus eher unbekannten Beamten.

Daher sollte die Wannsee-Konferenz vor allem verwaltungstechnische Konflikte, zum Beispiel in der Behandlung von deutschen Veteranen des Ersten Weltkriegs oder bei Mischehen, lösen.

Sie zeigt so exemplarisch, dass der Holocaust und das Dritte Reich vor allem durch diese Schicht an Verwaltungsexperten funktionieren konnte, die Robert Harris in „Vaterland“ wie folgt beschrieb:

Das Gesicht eines Bürokraten, eines Rechtsanwalts; ein Gesicht, das man tausendmal sehen mochte und doch nie beschreiben konnte; scharf in Person, verwischt in der Erinnerung; das Gesicht eines Maschinenmenschen.

Robert Harris: Vaterland

Inhalt

Die Alternativwelt von „Vaterland“

In „Vaterland“ war 1942 die Sommeroffensive der Wehrmacht – „Fall Blau“ – gegen die Sowjetunion erfolgreich und hatte die Rote Armee von der Treibstoffversorgung abgeschnitten.

Im selben Jahr überlebte Heydrich das Attentat auf sich in Prag.

1943 gelangen dem Dritten Reich daher der entscheidende Sieg gegen die Sowjetunion, auch wenn diese von Sibirien aus weiter Widerstand leistete.

1944 wurde auch Großbritannien nach dem Scheitern der Enigma-Entschlüsselung besiegt.

1946 erfolgte nach dem Atombombenabwurf der US-Amerikaner über Japan und der Explosion einer V3-Rakete über New York der endgültige Friedensschluss.

Nach diesem Sieg im Zweiten Weltkrieg haben die Nationalsozialisten große Teile der Sowjetunion unterworfen und arbeiten an dessen „Besiedlung“ (siehe Bild).

Karte der Alternativwelt im Roman Vaterland
(Wikimedia-Autor: D. Nahaissi/Gemeinfrei)

In Europa herrschen sie durch die Organisation der „Europäischen Gemeinschaft“, die die restlichen Nationen politisch und wirtschaftlich auf das Dritte Reich ausrichtet.

Die Reichshauptstadt Berlin ist mit 10 Millionen Einwohnern eine der größten Städte der Erde und wurde nach den Vorgaben der Nationalsozialisten umgebaut.

Im Jahr 1964 tobt jedoch immer noch ein Kalter Krieg zwischen den USA und dem Großdeutschen Reich. So unterstützen die US-Amerikaner die russischen Partisanen, die der Wehrmacht und SS in der ehemaligen Sowjetunion weiter blutige Gefechte liefern.

Zusätzlich liefern sich beide Supermächte ein Wettrennen in den Weltraum.

Doch 1964 nimmt der US-amerikanische Präsident Joseph Kennedy eine Einladung von Adolf Hitler zu persönlichen Gesprächen in das Großdeutsche Reich an.

Die Ermittlungen des Xaver März

Vor diesem Hintergrund ermittelt der Berliner Kriminalkommissar und SS-Sturmbannführer Xaver März zu mehreren Mordfällen im Umfeld der nationalsozialistischen Elite.

Dabei kämpft er nicht nur mit seinen Kriegstraumata als U-Bootfahrer.

Seit dem Scheitern seiner Ehe entfremdet sich sein im Nationalsozialismus aufgewachsener Sohn immer mehr von ihm.

Denn März sperrt sich gegen die Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten, was ihn trotz seiner kriminalistischen Brillanz zu einem Außenseiter im Dritten Reich macht.

„Vaterland“ folgt seinen Ermittlungen an sieben Tagen des Jahres 1964 bis zum 20. April – dem „Führergeburtstag“.

Alles beginnt mit der Leiche eines alten Mannes in der Havel.

Als sich der Tote als Josef Bühler, ein Veteran der NSDAP herausstellt, gerät Xaver März in Konflikte zwischen den höchsten Kreisen des Dritten Reiches.

Denn der Mord zieht die Aufmerksamkeit der Gestapo unter dem brutalen General Odilo Globocnik auf sich.

Denn dieser ist in den Mord involviert und zieht die Ermittlungen an sich.

Doch März ermittelt weiter und stößt mit Wilhelm Stuckart auf einen weiteren nationalsozialistischen Veteranen, der ermordet wurde.

Zur gleichen Zeit verschwindet mit Martin Luther ein dritter pensionierter, hochrangiger Beamter.

Bei seinen Untersuchungen kommt März schließlich in Kontakt mit der US-amerikanischen Journalistin Charlotte „Charlie“ Maguire, die Informationen zu den Morden sucht.

Gleichzeitig gerät er immer mehr in die Verstrickungen der nationalsozialistischen Sicherheitsorgane.

Von Arthur Nebe, dem Chef der Kriminalpolizei, erhält er den Auftrag, den Morden nachzugehen.

Dabei muss er aufpassen, der Gestapo keine Vorlagen zu liefern, ihn ebenfalls zu beseitigen.

Bei seinen Ermittlungen stößt März am Ende nicht nur auf Korruptionsfälle während des Krieges.

Sondern auf das größte Geheimnis des Dritten Reiches. Ein Geheimnis, das sein Todesurteil ist.

Sobald Deutschland den Krieg gewonnen habe, werde niemand mehr fragen, wie wir es gemacht hätten.

Robert Harris: Vaterland

Rezension

Die britischen alternativen Ankerpunkte

„Vaterland“ in Bezug auf die Entstehung der Alternativwelt einschätzen fällt mir schwer.

Denn Robert Harris stellt die alternative Entwicklung einfach als Fakt dar und gibt die Gründe dafür nicht preis.

Das unterscheidet ihn zum Beispiel von „Das Orakel vom Berge„, der als Roman von einem ähnlichen Szenario handelt.

Es sind allerdings die zwei Klassiker der Geschichte des Zweiten Weltkriegs:

Die britische Perspektive von „Vaterland“ zeigt sich in seiner teils satirischen, teils ernst gemeinten Parallele zur realen Geschichte.

So beherrschen die Nationalsozialisten Europa durch eine Vasallenorganisation, die sich in Name, Fahne und Hymne nicht von der realen Europäischen Gemeinschaft (siehe Bild) unterscheidet.

Flaggen der Europäischen Union in einer Flagge und Flaggen der Länder der Europäischen Union.
(Orso/Shutterstock)

Auch gibt es in einem Kapitel einen Verweis auf „Stalins Holocaust“, in dem die Nationalsozialisten die Verbrechen der Kommunisten ähnlich öffentlich behandeln wie die „reale“ Gesellschaft die Verbrechen der Nationalsozialisten.

Der Klassiker der Alternative History

Was „Vaterland“ neben diesen Anspielungen zu DEM Klassiker der Alternative History Literatur macht, ist die Tatsache, dass Robert Harris es bei diesen Einzelfällen nicht belässt.

So beschreibt er äußerst dicht das nationalsozialistische Berlin, das einerseits bereits nach den Germania-Plänen von Adolf Hitler und Albert Speer verändert ist. Andererseits kommen im Roman auch andere Ecken der Stadt vor, die sich wenig verändert haben.

Auch haben viele Protagonisten einen realen Hintergrund und zeigen gerade die in der Öffentlichkeit unbekannte „zweite Garde“ der Nationalsozialisten, ohne die der Holocaust nicht möglich gewesen wäre.

So sind die Mordopfer Josef Bühler, Wilhelm Stuckart, Wilhelm Kritzinger und Martin Luther tatsächliche Teilnehmer der Wannseekonferenz.

Eine kleine Anspielung erlaubt sich Robert Harris hier bei Luther, der als letzter stirbt und entscheidende Unterlagen liefert. Denn es war sein Exemplar des Protokolls, dass die Wannsee-Konferenz nach dem Krieg bekannt machte.

Auch die Auftritte von Odilo Globocnik und Artur Nebe basieren auf realen Figuren des Dritten Reichs.

Dabei lässt Robert Harris auch diese Nebencharaktere nicht einfach auftreten, sondern gibt ihnen jeweils detaillierte erzählerische Tiefe.

So beschreibt er in dichter Form das Geschachere zwischen den pensionierten Beamten sowie die Intrigen zwischen Nebe und Globocnik.

Beides hat auch reale Vorbilder. So galten die nationalsozialistischen Organisationen als hochkorrupt und die Strukturen der Organe des Dritten Reiches waren bewusst auf Konflikte zwischen einzelnen Akteuren angelegt.

Beides sorgte dafür, dass Adolf Hitler als Führer die letzte Schlichtungs- und Entscheidungsmacht innehatte.

Zur Wahrheit gehört auch, dass sich seit dem Erscheinen des Romans 1992 einiges neues in der Erforschung des Dritten Reiches getan hat und die historische Basis der Erzählung daher etwas veraltet ist.

So war damals noch unklar, ob es einen direkten Befehl von Adolf Hitler zum Holocaust gab. Dies gilt mittlerweile als unwahrscheinlich, da eine solche Order wie oben beschrieben gar nicht nötig war.

Auch die anderen Nebenfiguren wie die Journalistin Maguire und die Kollegen von Xaver März beschreibt Robert Harris mit eigenen Charakteren, Vorlieben und Vorgeschichten.

Zuletzt ist Xaver März einerseits eine durchaus sympathische Hauptfigur, aber andererseits auch ein gebrochener Charakter, der eher an einen klassischen Detektiv des „Film noir“ erinnert als an einen SS-Offizier.

Anders wäre auch eine Identifizierung des Lesers mit ihm nicht möglich.

Was „Vaterland“ (siehe Bild einer Ausgabe mit Harris anderem bekannten Roman „Enigma“) durch die Detailfülle auszeichnet, ist ein realistisches und dadurch beklemmendes Bild einer Welt und Gesellschaft, in der die Nationalsozialisten den Krieg gewonnen und der Holocaust „erfolgreich“ war.

Buchcover von zwei Romanen von Robert Harris: Vaterland und Enigma
(Eigenes Bild)

Zuletzt ist es Robert Harris in „Vaterland“ gelungen, die Geschichte immer spannend zu halten. Gerade am Ende kommt es zu zahlreichen Wendungen, die durchaus überraschend sind.

Zusammenfassend kann ich sagen: „Vaterland“ ist trotz der wenig erklärten Ankerpunkte aufgrund seiner starken Erzählung ein würdiger Klassiker der Alternative History und in jedem Fall lesenswert.

Quellen und Literatur

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