Sieben Alternativwelten in sieben Geschichten: Oliver Henkel wechselt in seinem dritten Werk zwischen den unterschiedlichsten Zeiten und Stilen.

Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, vom Krieg zwischen Alexander dem Großen und dem Römischen Reich bis zur blutigen Niederschlagung der Revolution in der DDR ist alles dabei.

Ankerpunkt

Da jeder der sieben Kurzgeschichten von „Wechselwelten“ einen anderen Bezugspunkt in der Geschichte hat, gehe ich jeweils nur kurz auf deren Ankerpunkte ein.

Der Knackpunkt der DDR

Die Montagsdemos in Leipzig 1989 galten als eine der größten Widerstandsaktionen gegen das kommunistische Regime. Besonders als am 9. Oktober an die 70.000 Menschen gegen die Diktatur demonstrierten.

Dass die bis dato als unüberwindlich geltenden Sicherheitsorgane wie dei Stasi (siehe Bild) an diesem Tag keine Gewalt anwandten, galt als Knackpunkt der DDR und Startschuss für die friedliche Wende.

Foto der Mütze eines Stasi-Offiziers
(Steve Scott/Shutterstock)

Doch bis heute ist unklar, warum das Regime die Demonstrationen nicht gewaltsam niederschlug.

Noch am 8. Oktober hatte die DDR-Regierung zahlreiche Einheiten ihrer Sicherheitsorgane, darunter auch der Armee, in Leipzig zusammengezogen. Gerüchte über auf zahlreiche Verletzte vorbereitete Krankenhäuser gingen in der Stadt um.

Mitte des Jahres hatte vor allem die SED auch große Sympathien für die „chinesische Lösung“ gezeigt. Diese bestand im blutigen Niederschlagen der Demokratiebewegung durch das Massaker am Tian’anmen-Platz in Peking.

So aber zeigte sich, dass nicht einmal die gefürchteten Sicherheitsorgane der DDR und SED den Demonstranten etwas entgegensetzen wollten oder konnten.

Die Reisen des Kolumbus

Zu jeder Erzählung über die europäische Entdeckung Amerikas gehörte die zunächst vergebliche Suche von Christoph Kolumbus (siehe Bild) nach Geldgebern für seine Expedition.

Bild von Christoph Kolumbus
(Everett Collection/Shutterstock)

Der genuesische Seefahrer hatte zuerst in Portugal für sein Vorhaben geworben, nach Westen zu segeln, um auf diesem Wege den Anschluss an die Reichtümer Asiens zu bekommen. Doch sein Plan wurde abgelehnt.

Auch in Spanien stieß sein Vorschlag zuerst auf Ablehnung.

Für die spanischen Könige Isabella I. von Kastilien und König Ferdinand II. von Aragón hatte die Eroberung des muslimischen Emirats Granada als Abschluss der Reconquista höchste Priorität.

Erst als mit dessen Kapitulation Ressourcen frei wurden, statteten sie den hartnäckig gebliebenen Genueser mit drei Schiffen für seine erste Expedition aus.

Der Rest war Geschichte und führte zu gewaltigen Umwälzungen.

So verschoben sich durch die gewaltsame Erschließung Amerikas die Handelswege weg von den traditionellen Strecken durch das Mittelmeer sowie Ost- und Nordsee.

Davon wurde die Hanse, der Zusammenschluss von vor allem norddeutschen Handelsstädten, hart getroffen.

Der Fernhandelsbund mit dem inoffiziellen Hauptort Lübeck befand sich aber bereits vorher im Abstieg, da er sich immer weniger gegen die erstarkenden Landesherrschaften durchsetzen konnte.

Die Gründung des Christentums

Die biblische Erzählung über das Todesurteil, die Kreuzigung und Wiederauferstehung von Jesus Christus ist weltbekannt.

Weit weniger offensichtlich ist die Möglichkeit, dass es auch anders hätte kommen können.

Denn der römische Statthalter Pontius Pilatus hatte nach den Zeugnissen der Bibel zuerst kein Interesse daran, den bis dato relativ unbekannten Prediger zu verurteilen.

So galt als Zeichen seines Desinteresses und des bekannten „Waschens seiner Hände in Unschuld“ seine Entscheidung, dazu die Volksmenge in Jerusalem zu befragen.

Erst die daraus resultierende Kreuzigung und Wiederauferstehung von Jesus Christus begründeten die spätere Weltreligion des Christentums.

Foto einer beschädigten Christus-Figur, die an einem rostigen Kreuz hängt
(Michel Stevelmans/Shutterstock)

Eine Entwicklung, die im Übrigen nicht ohne den Verrat von Judas Ischariot möglich gewesen wäre.

Nach dem neuen Testament packte diesen zu spät das schlechte Gewissen und er beging Selbstmord.

Der Antisemitismus des Walt Disney

Walt Disney galt nicht nur als Schöpfer einiger der berühmtesten Zeichentrickfilme der Weltgeschichte und als Begründer eines weltweiten Medienimperiums.

Disney hatte auch einen Ruf als antikommunistischer Frauenfeind und Antisemit.

Sogar von Sympathien für die Nationalsozialisten in den 1930er Jahren war die Rede, auch wenn es dafür keine eindeutigen Beweise gab.

Unstrittiger war, dass die Nationalsozialisten um Adolf Hitler und Josef Goebbels den US-Amerikaner für seine massentauglichen Filme bewunderten.

Dies lag sicher auch daran, dass viele Disney-Filme von deutschsprachigen Märchen und Orten in Deutschland inspiriert waren. 1935 hatte er aus Interesse sogar Schloss Neuschwanstein (siehe Bild aus der heutigen Zeit) besucht.

Foto von Schloss Neuschwandstein
(Natalia Klenova/Shutterstock)

So war Hitler großer Fan von „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ und Goebbels wollte den Erfolg Disneys mit einer eigenen Zeichentrickgesellschaft kopieren.

Die Karriere des Abraham Lincoln

Als Abraham Lincoln 1861 sein Amt als US-Präsident antrat, standen die USA direkt vor dem langjährigen Bürgerkrieg.

Doch dieser Konflikt hatte eine lange Vorgeschichte: Bereits seit der Gründung der Vereinigten Staaten schwelte die Frage über den Status der Sklaverei in mehreren Bundesstaaten.

Bis zum Amerikanischen Bürgerkrieg galten Afroamerikaner innerhalb der USA in ihrer Mehrzahl als Sklaven, die wie andere Dinge auf Märkten (siehe Bild einer Sklavenauktion in Richmond im Bundesstaat Virginia) verkauft werden konnten.

Gravur eines Sklavenmarktes von 1856
(Everett Collection/Shutterstock)

Lincoln hatte sich dabei bereits vor seiner Präsidentschaftskandidatur engagiert.

Neben seiner politischen Karriere war er vor allem als Anwalt in seinem Heimatstaat Illinois aktiv.

Lincoln, der Jura nur als Autodidakt studiert hatte, bestritt an die 5.000 Fälle und schulte so auch rhetorisches Talent.

Vor allem Letzteres machte ihn schließlich landesweit bekannt und zusammen mit seinem gemäßigten Kurs in der Sklavereifrage zum Kandidaten der Republikaner bei der Wahl 1860.

Die Zerstörung des Tempels von Ephesos

Der Tempel von Ephesos (siehe Bild) galt nicht nur wegen seiner Größe und Pracht als eines der bedeutendsten Heiligtümer der Antike.

Illustration des Tempels von Ephesos
(garanga/Shutterstock)

Er zählte sogar zu den „Sieben Weltwundern“ dieser Zeit.

Vor allem die zwei Meter große Statue der Jagd- und Fruchtbarkeitsgöttin Artemis galt als Herzstück eines Tempels, wie er selten erbaut worden war.

Hinzu kam, dass das an der Schnittstelle zwischen Asien und Europa gelegene Ephesos eine der größten und reichsten griechischen Städte jener Zeit war.

Der Artemis-Tempel unterstrich diesen Status eindrucksvoll.

Umso größer war der Schock, als der Tempel im Jahr 356 vor Christus abbrannte.

Nach den antiken Quellen war ein Mann namens Herostratos verantwortlich, der mit seiner Tat Unsterblichkeit erringen wollte.

Der Tod von Alexander dem Großen

In derselben Nacht, in der der Tempel in Ephesos abbrannte, kam angeblich der spätere Alexander der Große (siehe Bild) auf die Welt.

Relief mit der Silhouette von Alexander dem Großen
(giannimarchetti/Shutterstock)

Seinen unsterblichen Ruhm begründete er mit mehreren Siegen gegen die Perser und der Eroberung der ersten antiken Großmacht.

So schuf der makedonische Herrscher die Grundlage für die von griechischer Kultur dominierte antike Welt im östlichen Europa und dem westlichen Asien.

Was Alexander den Großen endgültig zur Legende machte, war sein überraschender Tod mit 32 Jahren in Babylon.

Vor allem die Umstände seines Todes waren unklar: Von Vergiftung über eine Krankheit bis hin zu übermäßigem Alkoholkonsum stand schon alles zur Debatte.

In jedem Fall gehörte Alexander zu den jung verstorbenen Herrschern, bei denen sofort die Fragen einsetzten, was gewesen wäre, hätten sie länger gelebt.

Denn sein gerade erobertes Weltreich überlebte den erfolgreichen Feldherrn nicht.

Stattdessen eroberte mit dem Römischen Reich eine aufstrebende Großmacht große Teile seines ehemaligen Reiches.

Inhalt

Oliver Henkel überschreibt die Kurzgeschichten von „Wechselwelten“ mit dem Untertitel „Sieben Ausflüge in Welten, die vielleicht beinahe existiert hätten“.

Diese Alternativwelten streifen verschiedene Zeiten, Orte und Szenarien.

Ein neunter Oktober

1989: In „Ein neunter Oktober“ wird der junge Armeeoffizier Walter Lenschow nach Leipzig zur Niederschlagung der dortigen Bürgerbewegung entsandt.

Anders als in der Realität entschließt sich hier die DDR-Führung, die Demonstration mit allen verfügbaren Kräften gewaltsam zu beenden.

Foto des alten Wappens der DDR
(dimm3d/Shutterstock)

Doch die verschiedenen Sicherheitsorgane sind den Demonstranten zahlenmäßig weit unterlegen.

Mitten im entstehenden blutigen Chaos versucht Lenschow bei Verstand zu bleiben und unverhofft ein Leben zu retten.

Der Adler ist gelandet

1491: Während der Belagerung von Granada trifft der Lübecker Kaufmann Hinrich Staacke auf einen Seemann aus Genua, der ebenfalls auf eine Audienz bei den spanischen Königen wartet.

Beide sind bisher von den Monarchen bitter enttäuscht worden und suchen neue Chancen, um die bisherigen Misserfolge auszuwetzen.

Entsprechend hellhörig wird Staacke als Christoph Kolumbus von einem neuen Weg zu den Gewürzen und Reichtümern Asiens berichtet.

So macht sich die Hanse unter der Führung Lübecks (siehe Bild aus der heutigen Zeit) auf die Fahrt gen Westen.

Luftbild der Altstadt von Lübeck
(saiko3p/Shutterstock)

…auf daß er die Menschen erlöse

Als Jesus von Nazareth durch den Verrat von Judas Ischariot in Jerusalem festgenommen wird und gekreuzigt werden soll, fügt sich zuerst alles wie in der Bibel.

Doch einmal bekommt Judas Gewissensbisse.

Verzweifelt sucht er einen Weg, seinen Meister vor der Verurteilung durch Pontius Pilatus zu retten.

Da trifft er zufällig auf einen römischen Zenturio, der Jesus noch für eine Heilung sehr dankbar ist.

Dann kommt ihm eine Idee.

Kalifornia Dreaming

Zur Eröffnung des neuen Disneylands bekommt Walt Disney 1955 Bewunderungsbriefe aus der ganzen Welt.

Unter anderem schreibt ihm Joseph Goebbels und schlägt sogar den Bau eines Disneylands im Deutschen Reich vor.

Mr. Lincoln fährt nach Friedrichsburg

Während im Jahr 1857 in den USA die Frage der Sklaverei immer mehr eskaliert, bekommt der aufstrebende Anwalt und Politiker Abraham Lincoln einen ungewöhnlichen Fall vorgelegt.

Nicht nur, dass die Sklavereibefürworter auf neue juristische Argumente für eine Rückführung von geflohenen Sklaven in die Südstaaten hoffen.

Dieser Fall führt ihn sogar an einen ungewöhnlichen Ort in Nordamerika: in das ehemalige South Carolina und die jetzige preußische Kolonie Karolina.

Die Altstadt von Charleston (siehe Bild aus der heutigen Zeit) ist als Friedrichsburg der Schauplatz der Verhandlung.

Altstadt von Charleston South Carolina
(f11photo/Shuttestock)

Hier muss er sich nicht nur mit einem äußert findigen Anwalt der Gegenseite herumschlagen, sondern sich auch in einem für ihn fremden System.

Denn Preußen hat seine ganz eigene Art, die Frage der Sklaverei zu beantworten.

Die Unsterblichkeit des Harold Strait

Als Student nimmt Harold Strait an einem geheimen Experiment mit Zeitreisen teil.

Diese Reisen sind größtenteils unspektakulär und nur für die Wissenschaftler interessant.

Erst als einer der anderen Teilnehmer beginnt, in der Antike Spuren zu hinterlassen, um Straits große Liebe zu beeindrucken, ändert er seine Pläne.

Doch erste Versuche, durch ähnliche Aktionen bei seiner Flamme zu punkten, scheitern.

Doch dann erhält Harold Strait die Gelegenheit, den Tempel von Ephesos im Jahr 356 vor Christus zu besuchen.

Aus den ‚Symphosien‘ des Nikandros von Athen: Dialog XIV, auch bekannt als „Zweites Gastmahl des Sophrionos“

Im Schlusskapitel diskutieren zwei Philosophen den Weg Alexanders des Großen nach seiner überraschenden Genesung.

Denn die Eroberungslust des makedonischen Herrschers war danach noch größer als vor der Eroberung des Perserreiches.

Da fiel ihm eine Delegation durch ihr arrogantes Verhalten ins Auge und sein Blick wanderte zu einem neuen Ziel: einem bisher wenig bekannten Reich um die Stadt Rom.

Das westliche Mittelmeer im Jahr 279 vor Christus, aufgeteilt zwischen Rom und Karthago.
(Wikimedia Autor: Maximilian Dörrbecker/CC BY-SA 2.0)

Und so setzen sich die gewaltigste Kriegsmaschinerie und einer der genialsten Feldherren der Antike in Bewegung nach Westen.

Rezension

Vielfältige Wechselwelten

Mit „Wechselwelten“ und seinem Untertitel „Sieben Ausflüge in Welten, die vielleicht beinahe existiert hätten“ stellt Oliver Henkel einen hohen Anspruch an sein Buch auf.

Diesen auf gerade einmal 246 Seiten für sieben Kurzgeschichten einzulösen ist in jedem Falle ambitioniert, wenn nicht sogar unmöglich.

Dennoch sind die Geschichten sehr abwechslungsreich und vielfältig.

Sie umspannen nicht nur 2.000 Jahre Geschichte, sondern auch sieben verschiedene Orte und Hintergründe.

Buchcover von Wechselwelten
(Eigenes Bild)

Daher ist es auf jeden Fall spannend, sich in die einzelnen „Wechselwelten“ hineinzudenken.

Historisch gesehen sind viele von ihnen unrealistisch, was aber gerade bei literarischen Kurzgeschichten in Ordnung ist.

So erscheint es sehr unrealistisch, dass ein ambitionierter Eroberer wie Alexander der Große sein gesamtes Militär für eine damals unbedeutende Regionalmacht einsetzt.

Oder, dass die sehr stark auf traditionelle Handelswege in Europa fokussierte und sich bereits im Niedergang befindliche Hanse eine Expedition über den Atlantik finanziert und ausrüstet.

Auf wenigen Seiten lassen sich historische Hintergründe von alternativen Geschichten nicht aufschlüsseln.

Häufig bleibt es nur bei Andeutungen über die Gründe für den alternativen Verlauf.

Unterschiedliche Qualität

Die Geschichten sind jedoch von unterschiedlicher Qualität.

So sticht besonders „Mr. Lincoln fährt nach Friedrichsburg“ durch seine dichte Erzählung und den Spannungsbogen positiv heraus.

Hier zeigt Oliver Henkel wie in „Kaisertag“ seine Stärke in der Beschreibung der Alternativwelt und Anspielungen auf die Realität.

Auch das Schlusskapitel um die Diskussion der beiden griechischen Philosophen ist gut geschrieben und eine stilistische Abwechslung.

Andere Kurzgeschichten fallen dagegen ab. So wirkt „auf daß er die Menschen erlöse“ stark konstruiert, vor allem mit dem Deus ex machina des zufällig auftauchenden römischen Zenturios.

„Kalifornia Dreaming“ war für mich zuerst etwas unschlüssig in der Interpretation, stellt aber einen durchaus geschickter Hinweis auf den Antisemitismus und den geschäftlichen Opportunismus von Walt Disney dar.

Insgesamt legt „Wechselwelten“ als literarische Kurzgeschichtensammlung einen starken Fokus auf Einzelpersonen, die Geschichten gestalten.

Zum Beispiel Hinrich Staack in „Der Adler ist gelandet“, der es im Alleingang schafft, Kolumbus von einer Zusammenarbeit mit der Hanse zu überzeugen.

Nur in zwei Geschichten dreht Oliver Henkel diesen Fokus auf wirkmächtige Individuen um.

In „Die Unsterblichkeit des Harold Strait“ bemüht sich die Hauptfigur zwar verzweifelt darum, die Geschichte zu prägen, scheitert aber immer wieder.

Und in „Ein neunter Oktober“ ist die Hauptfigur nicht nur in der großen Geschichte, sondern auch in der gesamten Handlung bloßer Spielball der Ereignisse.

Zusammengefasst zeigt Oliver Henkel in „Wechselwelten“ unterschiedliche Gesichter.

Spannend und schlau geschriebenen Kurzgeschichten mit guten Anspielungen über Abraham Lincoln und Alexander den Großen stehen Erzählungen gegenüber, die aus meiner Sicht ihr großes Potenzial verschenken.

Etwas enttäuscht hat mich die unglaublich große Schriftgröße für das kleine Buch. So ist es zwar schnell lesbar, aber manche Kurzgeschichte ist deshalb zu schnell vorbei.

Daher empfehle ich „Wechselwelten“ nur bedingt weiter.

Quellen und Literatur

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